Valentin Krasnogorov
Liebe bis zum Gedächtnisverlust
Verrückte Komödie in zwei Akten
Contacts:
e-mail: valentin.krasnogorov@gmail.com
Site:
http://krasnogorov.com
Übersetzung: ©
Albrecht D. Holzapfel 2015 Jalta/UA, Herrenberg/D
E-Mail: ruvyk@mail.ru
Von einer Komödie sollte man nicht
jedes beliebige Vergnügen erwarten,
sondern nur das ihr eigene.
Aristoteles
Inhaltsangabe
Ein an Gedächtnisverlust leidender Mann erscheint in der
Arztsprechstunde mit der Bitte um Hilfe. Der Arzt versucht Symptome und
Ursachen der Krankheit herauszufinden, doch erfolglos: Die Antworten des
Kranken sind dermaßen widersprüchlich, dass aus ihm nichts Vernünftiges herauszubekommen
ist. Zum Glück gelingt es, die Frau des Kranken hinzuzurufen. Sie antwortet auf alle Fragen klar und
überzeugt, aber ihrer Meinung nach, leidet auch der Arzt an Gedächtnisverlust.
Die Situation verwirrt sich noch mehr, als unerwartet noch eine Frau auftaucht
und ebenfalls behauptet, die Ehefrau des Kranken zu sein. Die Lage wird
vollkommen absurd. Der Arzt wird beinahe verrückt. Diese dynamische und lustige
Komödie entwickelt sich zielstrebig und lebhaft, in einer unerwarteten
Auflösung endend.
Handelnde
Personen
Doktor
Michael
Johanna
Marina
Mann
Das Alter der
Personen hat keine entscheidende Bedeutung.
Gut möglich,
dass sie um die Vierzig sind, der Doktor und der Mann auch etwas älter.
Anmerkungen des Übersetzers:
{Erklärende Kommentare in geschweiften Klammern.}
Erster Akt
(Reich
ausgestattetes Behandlungszimmer eines Arztes, das mehr an ein geschmackvolles
Wohnzimmer erinnert, als an einen sterilen ärztlichen Raum. In einem bequemen Sessel,
am Schreibtisch, hat sich der Doktor niedergelassen – ein gut gekleideter entspannter Mann in den besten
Jahren, sehr selbstsicher. Ein Besucher tritt ein.)
BESUCHER: Herr Doktor, ich leide an Gedächtnisverlust.
DOKTOR: Seit wann?
BESUCHER: Was heißt „seit wann“?
DOKTOR: Seit wann leiden Sie an Gedächtnisverlust?
BESUCHER: (Überlegt
gequält.) Ich erinnere mich nicht.
DOKTOR: Gut. Das heißt, das ist sehr schlecht. Aber alles
ist behebbar. Hauptsache, dass Sie zum richtigen Arzt gekommen sind. Zu dem,
der Sie heilt. Ärzte, die heilen, gibt es nicht so viele. Und solche, die vollkommen
auskurieren gibt es überhaupt nicht. Lassen Sie uns zuerst, wie das so üblich
ist, Ihre Krankengeschichte erfassen. (Beginnt,
Daten in den PC einzugeben.) Also, Sie leiden an Gedächtnisverlust.
BESUCHER: Woher wissen Sie das?
DOKTOR: Sie haben es mir doch gerade selbst gesagt.
BESUCHER: Ja? Sehr schade. Eigentlich verberge ich das, damit ich keine Unannehmlich-keiten
bekomme.
DOKTOR: Keine Sorge, das bleibt unter uns. Ärztliches Geheimnis. Ihr Name?
BESUCHER: Mein Name? (Überlegt
gequält.) Den habe ich vergessen.
DOKTOR: (Beruhigend.)
Regen Sie sich nicht auf, das ist nicht schlimm. Haben Sie einen Pass oder
einen anderen Ausweis bei sich?
BESUCHER: Ja, natürlich. (Kramt in seinen Taschen.) Entschuldigen Sie, Doktor, ich fürchte,
ich habe ihn zuhause gelassen.
DOKTOR: Ehrlich gesagt, Sie bereiten mir einige Probleme.
BESUCHER: Ich weiß selbst nicht, wie das passiert ist.
Ich erinnere mich, dass der Name sehr verbreitet ist.
DOKTOR: Versuchen wir, uns zu erinnern. Vielleicht Martin?
BESUCHER: (Unsicher.)
Vielleicht.
DOKTOR: Oder Peter?
BESUCHER: Ich weiß nicht.
DOKTOR: Und an den Familiennamen erinnern Sie sich auch
nicht?
BESUCHER: Und an den Familiennamen erinnere ich mich auch
nicht. Aber regen Sie sich nicht auf. Ich muss einen Zettel bei mir haben, mit
meinem Namen und der Adresse. Meine Frau steckt mir immer diesen Zettel in die
Tasche, wenn ich aus dem Haus gehe. Für alle Fälle. (Sucht in den Taschen und findet den Zettel. Triumphierend.) Hier, Sehen Sie!? Jetzt erfahren Sie, wie ich heiße. Wenn das schon so wichtig für Sie ist. (Reicht dem Doktor den Zettel.)
DOKTOR: (Entfaltet
den Zettel und liest.) Also… Telefonnummer. Scheint ein Handy zu sein. Und hier ist auch der Name: „Marina“. (Verblüfft.) Aber das ist doch nicht Ihr Name!
BESUCHER: Sind Sie sicher?
DOKTOR: Sie etwa nicht? Sie sind doch ein Mann!
BESUCHER: Woher wissen Sie das? Habe ich Ihnen das
gesagt?
DOKTOR: Wissen Sie denn das selbst nicht?
BESUCHER: Dass ich ein Mann bin? Wenn Sie das bestätigen,
dann glaube ich Ihnen. (Grübelnd.) Falls
Marina, dann ist das nicht mein Name, aber wessen dann?
DOKTOR: (Beginnt
nervös zu werden.) Eigentlich wollte ich Sie das fragen.
BESUCHER: Wahrscheinlich ist das der Name meiner Frau.
DOKTOR: Was heißt „wahrscheinlich“? Erinnern Sie sich
nicht an den Namen Ihrer Frau?
BESUCHER: Sie beleidigen mich. Natürlich erinnere ich
mich.
DOKTOR: Also, ist sie das, oder nicht?
BESUCHER: Natürlich, sie. Meine zärtliche, liebende und
geliebte Frau. Eine treue Freundin seit den ersten Jugendtagen. Sie glauben es
nicht, aber ich bin mir ihr seit der ersten Klasse bekannt. Wir haben doch in
ein und derselben Schule gelernt. Ach, Doktor, erinnern denn Sie sich an Ihre
Flitterwochen?
DOKTOR: (Ungläubig.)
Und Sie erinnern sich?
BESUCHER: Und wie! Ach, was war das für eine Zeit! Jede Vertiefung auf ihrem Körper war noch
von einem Geheimnis umgeben. Jede Berührung war aufregend, und jede Nacht
erschien wie ein Wunder. Ein nicht enden wollendes Wunder. Erinnern Sie sich
denn an all das, Doktor?
DOKTOR: (Seufzend,
mit Gefühl.) Wer von uns erinnert sich nicht daran?
BESUCHER: Glauben Sie mir, aber unsere Flitterwochen
dauern auch jetzt noch an.
DOKTOR: Sie kann man nur beneiden.
BESUCHER: Jeden Abend, wenn ich mich ins Bett lege, setze
ich die Brille auf und lese Zeitung, und meine Frau dreht sich die Haare ein und
macht sich in der Zeit eine Gesichtsmassage.
DOKTOR: Das heißt, Sie erinnern sich trotzdem an
irgendetwas?
BESUCHER: Natürlich. Sonst wäre ich ein Vollidiot. Leider
kommen manchmal Aussetzer vor. Irgendwelche Teile entfallen. Dann tauchen sie
auf. Dann entfallen sie wieder. Tauchen wieder auf. Entfallen wieder. Tauchen
wieder auf. Entfallen…
DOKTOR: (Unterbricht
ihn.) Ich hab´ verstanden. Tauchen wieder auf.
BESUCHER: Ja. Tauchen wieder auf. Aber insgesamt habe ich
ein hervorragendes Gedächtnis.
DOKTOR: Tatsächlich?
BESUCHER: Natürlich. Ich liebe Literatur, Philosophie,
Kunst. Haben Sie Hegel gelesen?
DOKTOR: Irgendetwas habe ich gelesen.
BESUCHER: Erinnern Sie sich, wie schön er von Architektur
und Skulptur gesprochen hat?
DOKTOR: Hm… Und Sie erinnern sich?
BESUCHER: Natürlich. (Mit
Gefühl.) „Die Konkretisierung der abstrakten Ideen auf dem Gebiet der
Plastik erzeugt jenen Satz des sich selbst suchenden Geists, in dem er, von
sich selbst abstoßend, sich auf dem Gebiet der bildenden Erkenntnis der darin
enthaltenen Schönheit potenziert“.
DOKTOR: Und das hat Hegel gesagt?
BESUCHER: Ja, und?
DOKTOR: Nicht, nichts. Wenn schon, dann erinnern Sie sich vielleicht doch, wie Sie heißen?
BESUCHER: Ich?
DOKTOR: (Verliert
die Geduld.) Sie. Doch nicht ich? Können Sie denn nicht irgendwie machen,
dass Ihr Name auftaucht?
BESUCHER: Natürlich. Ich heiße… Ich erinnere mich nicht.
DOKTOR: Vielleicht rufen wir Ihre Frau an und erfahren
Ihren Namen mit ihrer Hilfe?
BESUCHER: Gute Idee.
DOKTOR: Wer ruft an, ich, oder Sie?
BESUCHER: Besser Sie. Sonst sagt sie meinen Namen und ich
vergesse ihn wieder.
DOKTOR: (Sieht auf
den Zettel und wählt die Nummer.) Guten Tag. Kann ich mit Marina sprechen? Das sind Sie? Sehr angenehm. Entschuldigen Sie die Vertraulichkeit, aber ich weiß einfach
nicht, wie ich Sie anders anreden soll. Ich rufe aus der Klinik an. Halten Sie
mich nicht für taktlos, aber möchte erfahren, wie Ihr Mann heißt. Ja, ich
verstehe, dass diese Frage etwas seltsam klingt… Ihr Mann interessiert mich
ausschließlich aus medizinischer Sicht. Nein, ich spaße nicht und spiele Ihnen
nichts vor… Ich bin wirklich Doktor, und meine Nummer steht in jedem
Telefonbuch… (Trocken, mit Nachdruck.) Ihr Mann hat Probleme, und Sie wissen selbst, was das für Probleme sind… (Ärgerlich.) Entschuldigen Sie, aber Frechheit ist, wenn man einen unbekannten Menschen
grundlos als frech bezeichnet. Ihr Mann… (Das
Gespräch wird unterbrochen. Der Doktor legt verärgert den Hörer auf.)
BESUCHER: Nun, was hat sie gesagt?
DOKTOR: Sie hat gesagt, dass sie überhaupt keinen Mann
hat.
BESUCHER: Meine Frau hat keinen Mann? Das ist seltsam.
DOKTOR: Wirklich seltsam.
BESUCHER: Und wer ist sie denn dann?
DOKTOR: Das wollte ich von Ihnen erfahren.
BESUCHER: Und warum haben Sie sie nicht gefragt?
DOKTOR: Weil sie den Hörer aufgelegt hat. Entschuldigen
Sie, aber Ihre Ehefrau ist ein ziemlich nervöses Geschöpf.
BESUCHER: Wahrscheinlich, gerade weil sie keinen Mann
hat.
DOKTOR: Aber sie ist doch Ihre Frau!
BESUCHER: (Bestürzt.) Richtig. Sagen Sie, weshalb brauchen wir denn überhaupt
meinen Namen? Das hilft der Behandlung, nicht wahr?
DOKTOR: Um die Krankengeschichte zu beginnen. Um Sie zu
beobachten. Um Sie zur Untersuchung zu schicken. Um Ihnen die Rechnung zu
schicken, verdammt nochmal!
BESUCHER: Rechnung? Ich fürchte, dann erinnere ich mich
nie an meinen Namen.
DOKTOR: Mit Ihnen kann man den Verstand verlieren.
BESUCHER: Nehmen Sie das nicht zu sehr zu Herzen. Rauchen
Sie eine, entspannen Sie sich. Ich habe gute Zigaretten. Möchten Sie? (Greift in die Tasche.) Hier, nehmen Sie
das ganze Päckchen.
DOKTOR: (Nimmt das
Päckchen.) Das sind keine Zigaretten, das sind Spielkarten.
BESUCHER: Karten? Umso besser. Lassen Sie uns spielen, das lenkt Sie ab.
DOKTOR: Ich hab keine Zeit für solche Dummheiten. Außerdem,
kann ich gar nicht spielen.
BESUCHER: Ich bring es Ihnen bei. (Mischt die Karten
schnell und verteilt sie.) In
welcher Währung nehmen Sie das Honorar für die Behandlung, in Euro oder in Dollar?
DOKTOR: Ich bevorzuge Euro.
BESUCHER: Ausgezeichnet. Nehmen wir an, Sie setzen 10 Euro
auf die Pik-Dame. Dann..
DOKTOR: (Nimmt automatisch Karten auf, aber zu sich
kommend, wirft er sie auf den Tisch.) Sie befinden sich im Behandlungszimmer eines Arztes und nicht im
Casino! Das haben Sie wohl vergessen? Ich bin ein Privatarzt, und meine Zeit
ist teuer. Sehr teuer! Wollen Sie die verspielen?
BESUCHER: Entschuldigen Sie. (Räumt die Karten weg.)
DOKTOR: (Erschöpft.) Wissen Sie was? Lassen Sie uns wirklich rauchen. Obwohl ich es
eigentlich schon lange aufgehört habe.
BESUCHER: Hier, bitte.
DOKTOR: (Erstaunt.) Aber das sind doch keine Zigaretten, das ist ein Pass. (Öffnet den
Pass, vergleicht das Bild. Erfreut.) Ja, das ist Ihr Pass!
BESUCHER: Na, was hab ich Ihnen gesagt? Ich habe ein ausgezeichnetes
Gedächtnis.
DOKTOR: (Mit Blick in den Pass.) So, lieber Michael, endlich haben wir uns
bekannt gemacht. (Trägt seine Daten in die Krankengeschichte ein.) Michael…
Glöckner. Glöckner, das sind Sie?
MICHAEL: Wer denn sonst?
DOKTOR: Sind Sie sicher?
MICHAEL: Sie nicht?
DOKTOR: Nun, gut. Lassen Sie uns endlich zur Sache
kommen. Tragen Sie Ihre Beschwerden der Reihe nach vor.
MICHAEL: (Entschlossen.) Höchste Zeit. Ehrlich gesagt, ich bin mit Ihnen unzufrieden.
Ich zahle Ihnen regelmäßig Unsummen Geld, aber als mich der LKW gerammt hat,
haben Sie keinen Finger gerührt.
DOKTOR: Erstens, Sie bezahlen mir bisher kein Geld, schon
gar nicht eine Unsumme. Zweitens habe ich keine Ahnung, dass Sie ein LKW
gerammt hat.
MICHAEL: Seltsame Vergesslichkeit Ihrerseits. Ich habe
Ihnen doch darüber einen Brief geschickt, auf den zu antworten Sie nicht einmal
Zeit fanden.
DOKTOR: Ich erinnere mich an keinen Brief.
MICHAEL: Das heißt, Sie leiden an Gedächtnisverlust. Der
Aufprall war sehr stark, die Folgen schwer. Sie waren einfach verpflichtet,
unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen.
DOKTOR: (Trägt die Daten in die Krankengeschichte ein.)
Wurden Sie schwer verletzt?
MICHAEL: Ernsthaft beschädigt ist die rechte Seite.
DOKTOR: (Trägt die Daten in die Krankengeschichte ein.)
„Beschädigt die rechte Seite…“
MICHAEL: Und beide Scheinwerfer zerbrochen.
DOKTOR: (Erregt.) Bei wem ist die rechte Seite beschädigt? Bei Ihnen oder beim Fahrzeug?
MICHAEL: Beim Fahrzeug, natürlich.
DOKTOR: Und was passierte mit Ihnen? Haben Sie sich den
Kopf angeschlagen?
MICHAEL: Warum das denn? Bei mir ist alles in Ordnung.
Kein Kratzer.
DOKTOR: Und warum sollte ich dann unverzüglich Maßnahmen
ergreifen?
MICHAEL: Und wer wird mir Schadenersatz leisten?
DOKTOR: Schadenersatz? Wofür? Ich hab´ doch den LKW nicht gelenkt.
MICHAEL: Sie nicht. Aber Sie sind mein Versicherungsagent.
Wann haben Sie vor, für die Reparatur aufzukommen?
DOKTOR: Mein Lieber, ich bin kein Versicherungsvertreter.
Ich bin Privatarzt. Doktor. Verstehen Sie? Doktor.
MICHAEL: (Bestürzt.) Doktor?
DOKTOR: Doktor, Doktor. (Redet sanft und geduldig auf ihn ein.) Sie sind zu einem Doktor gekommen. Zum Doktor
und nicht zu einem Versicherungsagenten.
MICHAEL: Ja, richtig… Das hab´ ich völlig vergessen.
Entschuldigen Sie.
DOKTOR: Ich sehe, Ihre Krankheit ist äußerst ernst. Äußerst.
MICHAEL: Aber sie ist heilbar?
DOKTOR: Wie soll ich Ihnen sagen… Sie haben Glück, dass
Sie ausgerechnet zu mir kamen. Ein anderer Arzt hätte Sie nie und nimmer behandelt.
MICHAEL: Ja, das haben Sie schon gesagt.
DOKTOR: Das heißt, Sie erinnern sich daran?
MICHAEL: Natürlich.
DOKTOR: Das ist gut. Aber erinnern Sie sich überhaupt an
irgendetwas?
MICHAEL: Ich erinnere mich an alles. Kindheit, Schule,
Universität, Arbeit. Aber ich kann vollständig vergessen, was mit mir vor einer
Woche oder Stunde passiert ist. Und dann plötzlich erinnere ich mich. Und
vergesse wieder. Das ist furchtbar.
DOKTOR: Macht nichts, alles ist korrigierbar.
MICHAEL: Wie heißt meine Krankheit?
DOKTOR: Eine Form von Sklerose. Vorerst schwer zu sagen,
welche genau. Es gibt viele. Wie fühlen Sie sich körperlich?
MICHAEL: Gut.
DOKTOR: (Trägt die Daten in die Krankengeschichte ein.)
Wie verhält man sich Ihnen
gegenüber bei der Arbeit?
MICHAEL: Gut.
DOKTOR: Und wie verhält sich Ihre Frau zu Ihnen?
MICHAEL: Gut.
DOKTOR: Wann hatten Sie mit ihr zum letzten Mal enge
Beziehungen?
MICHAEL: (Nach längerem Überlegen.) Ich erinnere
mich nicht.
DOKTOR: (Greift sich verzweifelt an den Kopf.) Mein Lieber, ehrlich gesagt, ich hab´ es mit
Ihnen ein bisschen schwer. Lassen Sie uns eine kleine Pause machen.
MICHAEL: Weshalb?
DOKTOR: Deshalb, weil ich müde geworden bin. Und mein
Kopf fängt an wehzutun.
MICHAEL: (Teilnahmsvoll.) Eine Tablette vielleicht?
DOKTOR: (Schreit.) Nein, danke! Fressen Sie die selbst! (Reißt sich zusammen.) Entschuldigen Sie,
ich bin wirklich müde geworden. Wo sind wir stehen geblieben?
MICHAEL: Dass Sie baten, eine kleine Pause zu machen.
DOKTOR: Was für eine Pause? Ach, ja… Warten Sie bitte im Wartezimmer.
Ich werde Sie rufen.
MICHAEL: (Geht zum Ausgang, bleibt dann aber stehen.) Übrigens, wegen den engen Beziehungen… Sagen
Sie, ist meine Krankheit nicht ansteckend?
DOKTOR: Im Grunde nicht. Obwohl… (Denkt nach. Ein
unangenehmer Gedanke kommt ihm in den Sinn. Sein Gesicht verfinstert sich.)
Neulich wurde behauptet, dass einige Formen von Sklerose von Viren verursacht
werden und ansteckend sein können.
MICHAEL: Das heißt, Sie wollen sagen…
DOKTOR: (Unterbricht ihn.) Warten Sie. Und gehen
Sie weiter von mir weg. (Zieht hastig einen Mundschutz an und betrachtet
sich besorgt im Spiegel.)
MICHAEL: Sie haben noch nicht auf meine Frage
geantwortet.
DOKTOR: Ach, lassen Sie mich doch wenigstens für fünf
Minuten in Ruhe!!
(Michael geht hinaus. Der Doktor nimmt von einem Regal ein dickes
medizinisches Nachschlagewerk und beginnt es fieberhaft durchzublättern.
Nachdem er die gewünschte Information nicht gefunden hat, wirft er es zur
Seite. Er gießt sich aus einer Thermoskanne Kaffe ein und versucht, ihn zu
trinken, aber der Mundschutz stört ihn dabei. Er nimmt ihn ab, nimmt einen
kleinen Schluck aus der Tasse und beruhigt sich langsam. Er bemerkt den Zettel Michaels
auf dem Tisch, schaut nach und wählt die Telefonnummer.)
DOKTOR: Hallo? Marina? Verzeihen Sie. Hier ist wieder der Doktor. Ich will mich für den vorigen Anruf entschuldigen. Ja. Und ich möchte noch sagen, dass Sie, obwohl Sie mich als frech
bezeichneten, eine sehr angenehme Stimme haben. Keine Ursache. Das war ein
Missverständnis. Einfach weil sich in der Tasche eines meiner Patienten ein Zettel mit Ihrem Namen und der
Telefonnummer befand, und er behauptete, dass Sie seine Frau seien. Michael Glöckner.
Was!? Sie sind wirklich seine Frau? Aber Sie haben doch gesagt, dass Sie keinen
Mann haben! Verzeihen Sie, ich wollte Sie keinesfalls beleidigen. Einer Frau zu
sagen, dass sie keinen Mann hätte, bedeutet noch nicht, sie zu beleidigen.
Außerdem haben Sie selbst… Verzeihen Sie. Also… Also… Verstehe. Verstehe.
Verstehe. (Legt den Hörer auf.) Einen
Dreck verstehe ich.
(MICHAEL tritt ein.)
MICHAEL: Erlauben Sie?
DOKTOR: (Zieht
hastig den Mundschutz an.) Bitte.
MICHAEL: (Tritt
nahe an den Doktor heran und flüstert ihm ins Ohr.) Doktor, ich leide an
Gedächtnisverlust.
DOKTOR: (Drängt ihn
von sich.) Ich weiß.
MICHAEL: (Verwundert.)
Woher wissen Sie?
DOKTOR: Sie haben das selbst gesagt.
MICHAEL: Wann?
DOKTOR: Gerade eben. Und vorher auch.
MICHAEL: Wie konnte ich Ihnen das sagen, wenn ich Sie zum
ersten Mal sehe?
DOKTOR: Mich? Zum ersten Mal?
MICHAEL: Und außerdem verberge ich das vor allen. Ich
kann dieses Geheimnis nur einem Arzt anvertrauen.
DOKTOR: Aber ich bin doch Arzt, beim Teufel auch!
MICHAEL: (Erfreut.) Tatsächlich? Endlich! Also, Doktor, ich leide an Gedächtnisverlust.
DOKTOR: (Gießt sich
aus einer Karaffe Wasser ein, nimmt ein Tablette und schluckt sie.)
MICHAEL: (Glücklich.)
Ist Ihnen schlecht?
DOKTOR: (Fasst sich
ans Herz.) Ja.
MICHAEL: Sind Sie tatsächlich Doktor?
DOKTOR: Versteht sich.
MICHAEL: Und warum ist Ihnen dann schlecht? Schlecht geht
es nur Kranken, und Doktoren geht es immer gut.
DOKTOR: Atmen Sie mich nicht so nahe an. Was wollen Sie
von mir?
MICHAEL: Ich? Nichts. Sie kamen selbst hierher, ich hab` Sie nicht hergerufen
DOKTOR: Ich kam hierher? Sie haben mich nicht hergerufen?
(Nimmt die zweite Tablette ein.)
MICHAEL: Mein Lieber, Sie sehen schlecht aus.
DOKTOR: (Finster.) Wie
haben Sie das erraten?
MICHAEL: Interessant, wovon könnte das kommen?
DOKTOR: (Ironisch.)
Wirklich, wovon?
MICHAEL: Sie sind sehr nervös. Sie müssen sich mehr um
Ihre Gesundheit kümmern. Aber werden Sie nicht missmutig. Ich helfe Ihnen.
DOKTOR: Danke.
MICHAEL: Atmen Sie tiefer. Entspannen Sie sich. Gut so… Schlucken Sie diese Tablette. Ist Ihnen besser?
DOKTOR: (Finster.) Besser.
MICHAEL: Dann können Sie gehen. Auf mich warten andere
Patienten. Falls es nicht besser wird, schauen Sie morgen zu mir herein. Rufen
Sie den nächsten Kranken aus dem Wartezimmer herein.
DOKTOR: (Der völlig
verstörte Doktor geht zum Ausgang, kommt aber zu sich, bleibt stehen. Mit
unterdrücktem Zorn.) Ich rufe. Ich rufe die Sanitäter und die stecken Sie,
wissen Sie, wohin?
MICHAEL: Wohin?
DOKTOR: (Schreit.) Ruhe! ICH bin Arzt, ICH bin Arzt, und nicht Sie! Merken Sie sich das, zum Teufel
auch! (Beherrscht sich mit Mühe.) Entschuldigen
Sie, ich bin verpflichtet, Sie zu behandeln und nicht anzuschreien. Setzen wir
unser Gespräch fort. (Setzt sich an
seinen Platz.)
(Eine Frau tritt ein, ziemlich „pikant“ und gut gekleidet.)
FRAU: Guten Morgen.
MICHAEL: (Freudig.)
Bist du das?
FRAU: Wie du siehst, Liebster.
MICHAEL: Wie gut, dass du gekommen bist! (Beide umarmen und küssen sich.)
FRAU: Bring das Hemd in Ordnung und kämm dich! Wie fühlst
du dich?
MICHAEL: Wunderbar.
DOKTOR: Gestatten Sie, wer sind Sie?
MICHAEL: Das ist meine Frau.
FRAU: (Reicht dem
Doktor die Hand.) Ich heiße, wie Sie schon wissen, Marina. Marina Glöckner.
DOKTOR: Sehr angenehm.
FRAU: Als Sie mich anriefen, war ich ganz in der Nähe.
Deshalb entschloss ich mich vorbeizuschauen.
DOKTOR: Und recht so.
FRAU: Habe ich Sie nicht gestört?
DOKTOR: Im Gegenteil, Sie können sehr helfen. Bei mir
haben sich viele Fragen angesammelt, auf die ich eine verständliche Antwort
erhalten möchte.
MARINA: (An Michael.)
Lieber, warte ein bisschen auf mich im Wartezimmer, und dann werden wir
zusammen nachhause fahren. (Begleitet ihn
zum Ausgang und kehrt zurück.) Möchten Sie mir nicht anbieten, mich zu
setzen?
DOKTOR: (Nimmt den
Mundschutz ab.) Oh, entschuldigen Sie. Setzen Sie sich. Nicht hierher, das
ist der Stuhl für die Patienten. Auf das Sofa, bitte. Eine Tasse Kaffee?
MARINA: Nein, danke. Wie schreitet die Behandlung meines
Mannes voran?
DOKTOR: Nicht schnell, es gibt größere Schwierigkeiten.
MARINA: Ich bin überzeugt, dass so ein glänzender Arzt
wie Sie, sie überwindet.
DOKTOR: (Geschmeichelt.) Woher wissen Sie, dass ich ein guter Arzt bin?
MARINA: Das wissen alle.
DOKTOR: (Geschmeichelt.) Also nun, alle…
MARINA: Ich bitte Sie. Sie sind doch so berühmt.
Außerdem, wie sollte ich Sie nicht kennen, wenn Sie meinen Mann schon
eineinhalb Jahre behandeln.
DOKTOR: Ich? Ihren Mann? Eineinhalb Jahre? Das ist
unmöglich!
MARINA: Entschuldigen Sie, ich habe mich geirrt, nicht
eineinhalb, sondern zwei.
DOKTOR: Sie scherzen! Ich habe Ihren Mann vorher nie
gesehen.
MARINA: Ich verstehe. Ärztliche Schweigepflicht. Aber
doch nicht vor der eigenen Frau. Es geht doch nicht um die „französische
Krankheit“ {Geschlechtskrankheit.}, sondern um eine psychische Störung. Wenn Sie wüssten, wie ich darunter
leide!
DOKTOR: Kann ich mir vorstellen. Eine so bezaubernde Frau
wie Sie verdient etwas Besseres. Vielleicht doch ein Tässchen Kaffee?
MARINA: Wenn Sie darauf bestehen, dann lehne ich
vielleicht doch nicht ab.
DOKTOR: (Reicht dem
Gast Kaffee und Gebäck.) Hier, bitte.
MARINA: Ich danke Ihnen. Jetzt habe ich den Erfolg Ihres
professionellen Erfolgs begriffen.
DOKTOR: (Bescheiden.)
Der ist einfach: Wissen und Arbeit.
MARINA: Nicht ganz so. Ein Arzt sollte in erster Linie
als Mann anziehend sein. Das wirkt besser als jede Medizin.
DOKTOR: Meinen Sie?
MARINA: Ich bin sicher! Mit Ihrem Charme können Sie
erstaunliche Erfolge erzielen. (Verführerisch.)
Wenigstens, was die Frauen betrifft.
DOKTOR: (Nicht ohne einen gewissen Stolz.) Wirklich,
die Medizin erkennt an, dass die Persönlichkeit des Arztes eine gewisse
therapeutische Bedeutung hat.
MARINA: Nicht gewisse, sondern entscheidende.
DOKTOR: Wissen Sie, als wir am Telefon sprachen… Ich will
sagen, dass mir Ihre Stimme sehr angenehm erschien… Übrigens, ich sagte das
schon … Und nun, als ich Sie sah…
MARINA: (Verführerisch.)
Sind Sie enttäuscht?
DOKTOR: Im Gegenteil. Übrigens, warum haben Sie mir
zuerst gesagt, dass Sie nicht verheiratet wären?
MARINA: Hätte ich Ihrer Meinung nach am Telefon jedem
Unbekannten Einzelheiten aus meinem Privatleben erzählen sollen und außerdem
noch den Namen meines Mannes?
DOKTOR: Sie haben Recht. Aber es tut mir sehr Leid.
MARINA: (Spielerisch.)
Was tut Ihnen Leid?
DOKTOR: Wären Sie nicht verheiratet, dann würde ich Sie
mit Vergnügen hofieren.
MARINA: (Streng.) Ich
verstehe Sie irgendwie nicht.
DOKTOR: (Schüchtern.) Nein, ich… Ich meinte…
MARINA: (Fährt
fort.) Ich verstehe Sie wirklich nicht. Hofiert man denn verheiratete
Frauen nicht?
DOKTOR: Man hofiert, natürlich…
MARINA: Und wo ist dann das Problem?
DOKTOR: Verstehen Sie, es gibt bekannte Prinzipien…
MARINA: Prinzipien?
DOKTOR: Bei mir gibt es eine Regel: Vermisch nicht Arbeit
und Privatleben. Deshalb, zum Beispiel, hofiere ich nie Patientinnen.
MARINA: Sehr löblich. Aber ich bin keine Patientin.
DOKTOR: Sie sind die Frau eines Patienten.
MARINA: Vergessen Sie das. Ich habe von diesen Regeln
gehört: Keine Romanzen mit Arbeitskolleginnen beginnen, mit seinen Patientinnen
und Studentinnen, mit den Frauen seiner Verwandten und so weiter. Wenn das alle
einhalten, wer wird denn dann mit uns noch Romanzen beginnen? Merken Sie sich:
Hofieren muss man immer und alle, Mitarbeiterinnen, Frauen seiner Freunde, und um so mehr, die Frauen seiner
Feinde. Und, Sie werden es nicht glauben, manchmal auch seine eigene Frau.
DOKTOR: Das heißt, Ihrer Meinung nach, sind diese
Prinzipien…
MARINA: Lassen Sie die Prinzipien. Sagen Sie lieber
ehrlich, dass ich Ihnen nicht genug gefalle.
DOKTOR: Ich versichere Ihnen, Sie gefallen mir sehr.
MARINA: Wenn eine Frau wirklich gefällt, hofiert man sie
und denkt an nichts anderes. Das ist das einzig richtige Prinzip.
DOKTOR: Aber mein Alter…
MARINA: Sie haben ein wunderbares Alter.
DOKTOR: Ich bin viel älter als Sie.
MARINA: Der Mann sollte auch älter sein.
DOKTOR: Werde ich in Ihren Augen nicht lächerlich sein?
MARINA: Lassen Sie diese Gedanken. Sie sind ein Mann in
der Blüte seiner Jahre. Wir sehen fast wie Gleichaltrige aus.
DOKTOR: Das heißt, Sie werden bestimmt nicht beleidigt
sein, wenn ich Ihnen vorschlage, abends irgendwo zu essen?
MARINA: Ich werde beleidigt sein, wenn Sie mich nicht
einladen. Ehrlich gesagt, das hätten Sie viel früher machen sollen.
DOKTOR: Ich weiß, aber es ist schwer, sich schon beim
ersten Treffen dazu zu entschließen.
MARINA: Und ab welchem Treffen muss ein Mann handeln,
wenn nicht beim ersten? Das zweite kann ja auch nicht stattfinden.
DOKTOR: Aber so spontan, von „Null auf Hundert“…
MARINA: Was heißt hier von „Null auf Hundert“, Doktor?
Schildkrötentempo. Und wenn schon „Hundert“, dann doch wie eine Schnecke! Wir
sind schon zwei Jahre bekannt, und Sie haben erst heute beschlossen, sich für
mich zu interessieren. Und das auch noch sehr undeutlich.
DOKTOR: Zwei Jahre? Sind Sie sicher? Haben wir uns denn früher getroffen?
MARINA: Jetzt erkenne ich Ihr wahres Verhältnis zu mir.
Eine Frau, die gefällt, vergisst man nicht.
DOKTOR: Sie gefallen mir sehr, aber… (Verstummt. In
seinem Gesicht spiegelt sich offene Verwirrung. Wirkt denn der gedächtniszerstörende
Virus wirklich so schnell?)
MARINA: (Sieht sich
im Zimmer um.) Und Ihr Kabinett sieht noch imposanter und beeindruckender aus.
Gleich zu sehen, dass dies die Praxis eines erfolgreichen vorwärts strebenden
Arztes ist.
DOKTOR: (Bestürzt.) Kamen Sie auch früher hier her?
MARINA: Natürlich, und nicht nur einmal. Erinnern Sie
sich denn nicht? Diese kleine Bronzestatue, scheint mir, war vorher nicht da.
DOKTOR: Sind Sie sicher, dass Sie früher hier waren?
MARINA: Wie sollte ich denn nicht sicher sein, wenn ich
selbst meinen Mann zu Ihnen gebracht habe. Erinnern Sie sich denn nicht?
DOKTOR: Ich? (Unsicher.)
Weshalb denn, ich erinnere mich, natürlich. (Träufelt in ein Glas Tropfen aus einem Fläschchen, gießt Wasser dazu
und trinkt aus, wobei er sich bemüht, es unbemerkt zu tun.)
MARINA: Übrigens, ich mache mir Sorgen um ihn.
Entschuldigen Sie, ich muss kontrollieren, ob er nicht gegangen ist.
(Marina geht hinaus. Der Doktor fühlt seinen Puls. Marina kehrt zurück.)
DOKTOR: Ist er nicht gegangen?
MARINA: Nein. Also, Doktor, ich möchte von Ihnen eine
Bescheinigung über den Zustand meines Mannes bekommen, zusammen mit der
Krankengeschichte über alle diese Jahre. Ich bemühe mich um eine Invalidenrente
für ihn, und das Zeugnis eines kompetenten Arztes kann dabei sehr helfen.
DOKTOR: Hm… Sehen Sie, ich habe mich noch nicht
festgelegt, worin seine Krankheit besteht.
MARINA: Wie, zwei Jahre waren dazu nicht ausreichend?
Einem so erfahrenen Arzt, wie Sie?
DOKTOR: „Zwei Jahre“? Sagen Sie, und Sie haben zufällig
keine Probleme mit dem Gedächtnis?
MARINA: Ich? Natürlich nicht. Woher denn?
DOKTOR: Einige Formen der Sklerose können ansteckend
sein.
MARINA: Ich habe ein großartiges Gedächtnis. Aber – ich
werde Sie nicht stören. Geben Sie mir bitte seine Krankengeschichte, und ich
werde Sie nicht weiter von der Arbeit ablenken.
DOKTOR: Ich… Ich muss sie zuerst vorbereiten.
MARINA: Was heißt da vorbereiten? Drucken Sie sie am PC
aus, und fertig.
DOKTOR: Ich muss etwas prüfen… Mir scheint, mein PC ist
nicht in Ordnung… Können sie denn nicht heute etwas später vorbeikommen?
MARINA: Mit Vergnügen. (Steht auf, begibt sich zum Ausgang, bleibt dann aber stehen.) Übrigens,
ich habe immer noch nicht verstanden, haben Sie mich zum Abendessen eingeladen,
oder nicht? Oder haben Sie das auch schon vergessen?
DOKTOR: Versteht sich, Sie sind eingeladen.
MARINA: Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, aber
wenn ein Mann eine Frau einlädt, teilt er ihr gewöhnlich mit, wohin und wann er
sie abholt, oder wo und wann sie sich treffen sollen. Ich muss mich
vorbereiten. Ich gehe doch nicht zu einem Rendezvous mit Ihnen in so einem
Aufzug, in diesen Lumpen…
DOKTOR: Mir passen diese Lumpen vollkommen.
MARINA: Nein, nein, ich muss mich umziehen. Also, ich
schaue in eineinhalb Stunden herein, und wir reden über alles. Und gleichzeitig
nehme ich die Krankengeschichte mit.
DOKTOR: Ausgezeichnet.
MARINA: Haben Sie die Unterredung mit meinem Mann schon
beendet?
DOKTOR: Noch nicht.
MARINA: Dann lasse ich ihn Ihnen noch hier. (Mit einem vielversprechenden Lächeln.) Bis
bald.
(Marina geht hinaus. Der Doktor bleibt alleine. Sein Gesicht drückt eine Mischung
von Freude und Verwirrung aus. Nachdem er eine Weile hin und hergegangen ist,
setzt er sich an den PC und beginnt die Datei mit der Krankengeschichte zu
suchen. Michael tritt ein.)
MICHAEL: Doktor…
DOKTOR: (Leidend.) Sagen
Sie mir bloß nicht, dass Sie an Gedächtnisverlust leiden.
MICHAEL: Ich leide auch nicht an Gedächtnisverlust. Woher
haben Sie das denn?
DOKTOR: Also, was wollen Sie dann von mir?
MICHAEL: Meine Frau hat mir aufgetragen, im Wartezimmer
zu warten, aber mir ist dort langweilig. Kann ich hier sitzen?
DOKTOR: Lieber im Wartezimmer.
MICHAEL: Lieber hier.
DOKTOR: Nun, gut. Unter einer Bedingung: Sie werden
schweigen.
MICHAEL: Ich werde kein Wort sagen.
DOKTOR: Vergessen Sie dieses Versprechen nicht.
MICHAEL: Ich vergesse nie etwas.
DOKTOR: (Aufatmend.)
Na, wunderbar.
(Michael setzt sich bescheiden in eine Ecke. Der Doktor sucht im PC die
Krankengeschichte, offenbar erfolglos. Er wendet sich zur Absicherung an Michael.)
DOKTOR: Erinnern Sie sich nicht zufällig, ob ich eine
Krankengeschichte über Sie angelegt habe?
MICHAEL: Das haben Sie.
DOKTOR: Wann? Heute Morgen?
MICHAEL: Nein, schon lange. Vor einem oder zwei Jahren.
DOKTOR: Und Sie erinnern sich daran?
MICHAEL: Natürlich erinnere ich mich.
DOKTOR: Warum kann ich sie dann nicht im PC finden?
MICHAEL: Ich weiß nicht. Soll ich Ihnen helfen?
DOKTOR: Nein, danke. (Beginnt wieder im PC zu suchen.)
(Eine Frau in einem tadellosen englischen Kostüm tritt ein. Ihre Bewegungen
sind selbstsicher, die Sprache klar und deutlich, die Manieren entschieden.)
FRAU: Guten Morgen.
MICHAEL: (Erfreut.)
Du bist das?
FRAU: Wie du siehst, Lieber.
MICHAEL: Und ich langweile mich hier ohne dich. Wie gut,
dass du gekommen bist. (Beide umarmen und
küssen sich.)
FRAU: Bring das Hemd in Ordnung und kämm dich! Wie fühlst
du dich?
MICHAEL: Ausgezeichnet.
DOKTOR: Gestatten Sie, wer sind Sie?
MICHAEL: Das ist meine Frau.
FRAU: (Reicht dem
Doktor die Hand.) Ich heiße, wie Sie schon wissen Johanna Glöckner.
DOKTOR: (Verblüfft.) Sehr angenehm.
FRAU: Habe ich Sie nicht gestört?
DOKTOR: Nein, in keiner Weise. Entschuldigen Sie. Setzen
Sie sich. (Nimmt Michael zur Seite.) Wer
ist diese Frau?
MICHAEL: Das hab ich doch gesagt, meine Frau.
DOKTOR: Aber Sie haben doch vor kurzem an diesem selben
Ort eine andere Frau umarmt und sie auch Ihre Frau genannt!
MICHAEL: Doktor, Sie haben Halluzinationen. Behandeln Sie
sich! Hier war keine Frau.
DOKTOR: (Vollkommen
durcheinander, nimmt die nächste Dosis Medizin ein. Nachdem er die Gedanken
geordnet hat, wendet er sich an Johanna.)
DOKTOR: Ich hoffe, Sie sind nicht beleidigt, wenn ich Sie
bitte irgendeines Ihrer Dokumente vorzuweisen.
FRAU: Seltsame Bitte. Aber, bitte. Hier ist mein
Führerschein. (Reicht ihm das Dokument.) Johanna
Glöckner. Zu Ihren Diensten.
DOKTOR: (Sieht sich
den Führerschein aufmerksam an und gibt ihn zurück. Verständnislos.) Alles
in Ordnung.
JOHANNA: Und Sie haben daran gezweifelt? Ich bitte nicht
um Ihre Dokumente, weil ich weiß, wer Sie sind. Es würde natürlich nicht
schaden, Ihre Lizenz zu prüfen, aber das ist Sache der Staatsanwaltschaft, und
ich bin Anwalt. Hier, übrigens, meine Visitenkarte.
DOKTOR: Was verdanke ich Ihre Visite?
JOHANNA: Mich beunruhigt die Gesundheit meines Mannes.
DOKTOR: Mich auch. Aber ich würde bevorzugen, mit ihnen
darüber unter vier Augen zu reden.
JOHANNA: (An den
Mann gerichtet.) Lieber, warte ein bisschen auf mich im Wartezimmer, und
danach fahren wir zusammen nachhause.
(Michael geht gehorsam hinaus.)
DOKTOR: Sagen Sie, wissen Sie, dass Ihr… äh… Mann krank
ist?
JOHANNA: Wie könnte ich das nicht wissen!
DOKTOR: Und Sie wissen, an was er leidet?
JOHANNA: Er leidet an Gedächtnisverlust.
DOKTOR: Seit wann?
JOHANNA: (Verwundert.)
Was heißt „seit wann“?
DOKTOR: Seit wann ist er krank?
JOHANNA: (Verwundert.)
Wissen Sie das denn nicht?
DOKTOR: Weshalb sollte ich das wissen?
JOHANNA: Aber Sie behandeln ihn doch schon zwei Jahre,
wenn nicht länger!
DOKTOR: Ich? Zwei Jahre??
JOHANNA: Doktor, was ist mit Ihrem Gedächtnis? Wie können
Sie einen Kranken behandeln, wenn Sie sich selbst an nichts erinnern?
DOKTOR: Nun gut, mögen es zwei Jahre sein. Erzählen Sie
von der Krankheit Ihres Mannes genauer. Haben Sie es schwer mit ihm?
JOHANNA: Welche Frau hat es leicht mit ihrem Mann?
DOKTOR: Vertiefen wir uns nicht in persönliche Probleme,
reden wir über die medizinischen. Wie genau drückt sich seine Krankheit aus?
JOHANNA: Er erinnert sich an sehr komplizierte und lange
zurückliegende Dinge und vergisst die einfachsten. Er kann sich, zum Beispiel,
Kaffe eingießen und vergessen, ihn auszutrinken. Oder zweimal ein und dasselbe
Medikament einnehmen.
DOKTOR: Das passiert mir auch.
JOHANNA: Hab´ ich mir schon gedacht.
DOKTOR: Wie halten Sie denn das alles aus?
JOHANNA: Ich bin ein Mensch der Pflicht. Ich mache nicht
das, was mir gefällt, sondern das, was ich tun muss. Ich esse nicht das, was
mir schmeckt, sondern das, was weniger Kalorien enthält. Ich treffe mich nicht
mit denen, die mir sympathisch, sondern mit denen, die mir nützlich sind. Ich
lebe nicht mit dem Mann, mit dem ich wollte, sondern mit dem, der mir zufiel.
Sich zu beklagen und zu jammern ist zwecklos. Man muss arbeiten, den Gürtel
enger schnallen und sein Kreuz tragen.
DOKTOR: Ich bewundere Sie.
JOHANNA: Danke. Aber letztendlich ist mein ehemaliger Mann auch kein so schlechter Mensch.
Es gibt schlechtere. Ich wiederhole mir das hundertmal am Tag. Es gibt schlechtere. Es gibt schlechtere. Jede Frau sollte das wiederholen. Es gibt schlechtere.
DOKTOR: Warum haben Sie gesagt „ehemaliger Mann“? Haben
Sie sich denn geschieden?
JOHANNA: In keiner Weise. Wir sind immer noch
verheiratet. Aber was ist das für ein Ehemann, der das vergisst, was ein Mann und
Ehemann nicht vergessen sollte. Sie verstehen mich?
DOKTOR: Hm… Und was machen Sie in solchen Fällen?
Erinnern Sie ihn daran?
JOHANNA: Wenn man den Mann an solche Dinge erinnern muss,
dann hilft da auch nichts mehr.
DOKTOR: Sie haben Recht.
JOHANNA: Wissen Sie, zu welchem Schluss mich meine
juristische Praxis gebracht hat? Je mehr vergessliche Männer es gibt, desto
mehr leidende Frauen gibt es.
DOKTOR: Zum gleichen Schluss kommt auch die ärztliche
Praxis. Allerdings, sagen Sie, kam Ihnen
nie in den Sinn, dass man seine Vergesslichkeit in diesen Dingen damit
begründen kann, dass...
JOHANNA: …dass er eine andere Frau hat?
DOKTOR: Das haben Sie gesagt und nicht ich.
JOHANNA: Bringen Sie mich nicht zum Lachen. Das ist ausgeschlossen.
DOKTOR: Ja? Und wie würden Sie sich zu so einer Vermutung verhalten, dass nicht lange
vor Ihnen mit ihm eine… Wie soll ich Ihnen das sagen… Versteht sich, das ist
nur eine Vermutung…
JOHANNA: Verschleiern Sie die Sache nicht, Doktor.
Spielen Sie mit offenen Karten. Ich habe keine schwachen Nerven.
DOKTOR: Sie dürfen ihn nicht verurteilen. Meiner Meinung
nach erinnert er sich einfach nicht, wer seine Frau ist.
JOHANNA: Er erinnert sich ausgezeichnet. (Sie ruft den Mann, der hereinkommt.)
Lieber, sag diesem Menschen, wie ich heiße.
MICHAEL: Weiß er das denn nicht?
JOHANNA: Er wusste es, hat es aber vergessen. (Ironisch.) Dieser Mensch leidet an
Gedächtnisverlust.
MICHAEL: (Zum
Doktor.) Sie tun mir aufrichtig Leid.
DOKTOR: Ich tu´ mir selbst Leid.
MICHAEL: Warum gehen Sie sich nicht in Behandlung? Ich
kann Ihnen einen guten Arzt empfehlen. Hier ist seine Visitenkarte.
DOKTOR: (Sieht sich
die Karte an.) Ich danke Ihnen, das ist meine Karte. Sagen Sie lieber, wie
diese Dame heißt?
MICHAEL: Sie stellen seltsame Fragen. Denken sie, ich
weiß nicht, wie meine eigene Frau heißt? Die Frau, mit der ich die Schule
besuchte?
DOKTOR: Also, wie heißt sie, zum Teufel auch?
MICHAEL: Johanna. Und nun?
JOHANNA: Nichts, Lieber. Du kannst solange ins
Wartezimmer zurückgehen. Geh aber nicht weg. (Michael geht hinaus.)
DOKTOR: Seltsam. Wenn das nicht seine Frau war, wer war
sie denn dann?
JOHANNA: Wer?
DOKTOR: Die Frau, die vor Ihnen hier war.
JOHANNA: Wenn sie denn hier war, dann weiß ich wer sie
ist.
DOKTOR: (Interessiert.)
Ach was? Wer denn?
JOHANNA: Eine Hure und Abenteurerin.
DOKTOR: Sie sollten nicht so scharf sein. Mir erschien
sie völlig anziehend.
JOHANNA: Leider sind Huren und Abentreurerinnen immer
anziehend. Im Unterschied zu uns ordentlichen Frauen.
DOKTOR: Das stimmt. Sie kennen sie also, oder nicht?
JOHANNA: Natürlich kenne ich sie nicht und kann sie nicht
kennen. Mit solchen Personen verkehre ich nicht. Außerdem war hier tatsächlich
keine Frau, und das ist Ihnen ausgezeichnet bekannt.
DOKTOR: Die Frau war hier.
JOHANNA: War nicht.
DOKTOR: War. (Wischt sich die Stirn ab.) Aber vielleicht war sie wirklich nicht da?
JOHANNA: Entschuldigen Sie, ich will kontrollieren, ob
mein Mann an seinem Platz ist. (Geht
hinaus und kehrt zurück.)
DOKTOR: Am Platz?
JOHANNA: Ja. Wissen Sie, auf ihn muss man ein Auge haben. Lassen Sie uns das Gespräch
über Frauen beenden und zur Sache kommen, und zwar zum Gesundheitszustand
meines Mannes. Ich bin nicht hergekommen, um fantastische Erzählungen zu hören,
sondern um eine Bescheinigung über seine Krankheit zu bekommen.
DOKTOR: Um eine Bescheinigung auszustellen, muss ich
zuerst sein Leiden untersuchen. Deshalb will ich auch fragen, seit wann…
JOHANNA: (Unterbricht ihn.) Erstens, hab ich Ihnen schon zwanzigmal davon erzählt.
DOKTOR: Wann?
JOHANNA: (Hört nicht
auf ihn.) Zweitens stellen Sie keine unnötigen Fragen und sehen Sie in
seine Krankengeschichte. Sie ist in Ihrem PC. Dort steht alles.
DOKTOR: Ich habe keinerlei Krankengeschichte von ihm!
JOHANNA: Wie soll das verstehen? Sind Sie denn dermaßen nachlässig,
dass Sie sie nicht führen? Sie wissen doch bestens, dass diese Nachlässigkeit
an ein dienstliches Vergehen grenzt!
DOKTOR: Sie vergessen sich!
JOHANNA: (Hart.) Keinesfalls. Ich leide noch nicht unter Gedächtnisverlust. Und ich will Sie daran erinnern, dass die Krankengeschichte nicht nur ein
medizinisches, sondern auch ein juristisches Dokument ist. Im Fall einer
gerichtlichen Klage gegen Sie, seitens des Kranken, kann sie die Richtigkeit
oder Nichtrichtigkeit Ihrer verordneten Behandlung beweisen. Ich denke, dass Sie
sie entweder nicht anlegten oder vorsätzlich löschten, um vor den
Finanzbehörden die Zahlungen zu verbergen, die Sie von uns erhielten.
DOKTOR: Ich habe keinerlei Zahlungen erhalten!
JOHANNA: Regen Sie sich nicht auf, wir werden sie nicht
zurückfordern. Das Einzige, das ich will, ist die Bescheinigung über den
schweren Zustand meines Mannes und seine Krankengeschichte.
DOKTOR: (Er ist völlig verwirrt.) Die
Bescheinigung kann ich Ihnen wohl geben, aber…
JOHANNA: (Unbeirrt.) Und die Krankengeschichte
auch.
DOKTOR: Woher nehme ich die?
JOHANNA: Aus dem PC. Aus dem Schreibtisch. Woher Sie wollen. Finden Sie sie, stellen Sie sie wieder her – mich
interessiert das nicht.
(Der Doktor ist völlig verstört und weiß nicht, was er tun soll. Er nimmt
das Fläschchen, sieht, dass die Tropfen aus sind, und geht hinter einen
Wandschirm, wo er Medikamente aufbewahrt. Johanna ruft ihm zu.)
JOHANNA: Und dass die Krankengeschichte in einer Stunde
fertig ist! In genau sechzig Minuten komme ich sie holen! (Geht in Richtung Ausgang, und trifft in der Türe mit einem neuen
Besucher zusammen. Das ist ein äußerst solider Mann, in einem klassischen, gut
geschnittenen Anzug. Beide werfen sich einen aufmerksamen Blick zu. Johanna geht. Der Mann tritt ein. Er besieht sich vorsichtig den Raum
und bemerkt nicht gleich den Doktor, der hinter dem Wandschirm hervorkommt. Als
er ihn sieht, zuckt der Mann zusammen.)
DOKTOR: (Hat sich
wieder gefasst.) Mit was kann ich dienen?
MANN: Ich… Ich… Ich…
DOKTOR: Wer sind Sie?
MANN: Ich… Ich… Ich…
DOKTOR: Ja, Sie, Sie, Sie! Nicht ich, Teufel auch!
MANN: Ich… Ich denke nicht, dass mein Name für Sie
irgendeine Bedeutung hat.
DOKTOR: Warum nennen Sie ihn dann nicht?
MANN: Wirklich, warum?
DOKTOR: Genau das sage ich auch: Warum?
MANN: Also, schauen Sie, wir sagen beide „warum“?
DOKTOR: Und warum nennen Sie ihn denn dann nicht?
MANN: Weil darin kein Bedarf besteht.
DOKTOR: Hören Sie auf, auszuweichen und sagen Sie es
direkt: An was leiden Sie?
MANN: Kann ich mit Ihnen von Mann zu Mann reden?
DOKTOR: Selbst wenn wir es noch so wollten, wir können
nicht von Frau zu Frau reden.
MANN: Sie haben Recht.
DOKTOR: Nun, packen Sie schon aus, zieren Sie sich nicht,
was haben Sie?
MANN: Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll…
DOKTOR: Nur Mut, da gibt´s doch nichts zu schämen. Mit
solchen Problemen, wie Sie, hat fast jeder Mann zu tun.
MANN: Woher kennen Sie meine Probleme?
DOKTOR: Ich kann sie mir denken.
MANN: Sie können sie nicht kennen. Sache ist die, dass…
Wie soll ich sagen…
DOKTOR: Nun aber, werden Sie nicht rot. Sie sind beim
Arzt. Und hier werden Geheimnisse gehütet.
MANN: (Schwankt.) Nun, gut. Ehrlich gesagt, ich hatte zuerst geplant, mich krank zu stellen.
Aber jetzt denke ich, warum nicht alles so sagen, wie es ist?
DOKTOR: Sie sind also nicht krank?
MANN: Nein.
DOKTOR: Was machen Sie denn dann hier?
MANN: Ich suche eine Frau.
DOKTOR: Soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten? Ich bin
keine Frau.
MANN: Mir ist nicht nach Späßen zumute. Die Sache ist
sehr ernst.
DOKTOR: Wer ist sie für Sie? Ehefrau, nicht wahr?
MANN: (Nach einigem Schwanken.) Ja.
DOKTOR: Und was habe ich damit zu tun?
MANN: Ich weiß, dass sie gerade erst hier war.
DOKTOR: Ich veröffentliche keine Informationen über meine
Patienten.
MANN: Diesmal müssen Sie eine Ausnahme machen.
DOKTOR: Interessant. Und warum?
MANN: Weil ich sie bis zum Gedächtnisverlust liebe.
DOKTOR: Ihre Frau?!
MANN: Ja. Na und?
DOKTOR: Nichts. Sehr rührend.
MANN: Also, wo ist sie?
DOKTOR: Ihre Frau war nicht hier.
MANN: Sie war, und ich weiß das genau.
DOKTOR: Wie ist ihr Familienname?
MANN: Glöckner.
DOKTOR: (Betroffen.) Glöckner? Sind Sie sicher?
MANN: Sicher.
DOKTOR: Nicht Klingler?
MANN: Nein.
DOKTOR: Nicht Scheller? Und nicht Läuter?
MANN: Aber nicht doch!
DOKTOR: So-so… (Geht
aufgeregt im Zimmer hin und her.) Das heißt, Ihre Frau heißt… Wie nochmal?
MANN: Glöckner.
DOKTOR: Großartig. Als Sie hereinkamen, scheint mir,
haben Sie jemanden getroffen. Erinnern Sie sich?
MANN: Meinen Sie jene Frau, in dem taillierten englischen
Kostüm, mit dunklen Augen, einem Muttermal auf der linken Wange, mit einem
lilafarbenen Chiffonschal um den Hals und einem schwarzen Koffer in der Hand?
DOKTOR: Genau die. Was sagen Sie zu ihr?
MANN: Nichts. Ich hab ihr keinerlei Aufmerksamkeit
geschenkt.
DOKTOR: So-so… Keine Aufmerksamkeit geschenkt. Keinerlei. (Platzt aus sich heraus.) Hauen Sie von hier ab, und zwar sofort! Und lassen Sie sich hier nie mehr blicken!
MANN: Doktor, ich verstehe Sie nicht. Warum…
DOKTOR: (Unterbricht
ihn.) Weil Sie gerade eben mit der Nase auf Madame Glöckner gestoßen sind.
Angenommen, Sie haben ihr keine Aufmerksamkeit geschenkt. Aber sie ging ja auch
völlig ruhig vorbei!
MANN: Aber ich habe keine Ahnung, wer sie ist. Ich habe
sie nie vorher gesehen!
DOKTOR: Das heißt, sie – ist nicht Ihre Frau?
MANN: Natürlich nicht! Außerdem bin ich seit langem
geschieden. Schon zwei Jahre.
DOKTOR: Wie „geschieden“? Sie lieben doch Ihre Frau bis zum Gedächtnisverlust!
MANN: Ja-ja, natürlich… Danach habe ich wieder
geheiratet.
DOKTOR: Sie haben wieder geheiratet? Sehr gut. Und Ihre
Frau heißt, wie sagen Sie…
MANN: Glöckner, Marina Glöckner.
DOKTOR: Wie sagten Sie? Marina?
MANN: Ja, Marina.
DOKTOR: Aber sie ist doch verheiratet! Mit Michael!
MANN: (Betroffen.) Mit welchem Michael?
DOKTOR: Mit ihrem Mann.
MANN: Das kann nicht sein! Sie ist nicht verheiratet! Ich will sagen, sie ist mit mir verheiratet.
DOKTOR: (Nachdenklich.)
Nun denn, vielleicht erklärt das einiges… Also, was wollen Sie nun von mir?
MANN: Ich weiß, sie war hier. Vielleicht kommt sie nochmal her. Helfen Sie mir, sie zu treffen.
DOKTOR: Ich befasse mich nicht mit der Suche fremder
Ehefrauen. Und ich bin mir nicht sicher, dass Marina Ihre Frau ist. Und ich bin
mir nicht sicher, dass sie Marina heißt. Und ich bin mir nicht sicher, dass sie
hierher kommt. Und noch weniger sicher bin ich mir, dass sie überhaupt
existiert.
MANN: Sie existiert!
DOKTOR: Dann gehen Sie nachhause und warten Sie dort auf
sie. (Schiebt ihn zum Ausgang.)
MANN: (Wehrt sich.) Doktor, ich flehe Sie an…
DOKTOR: Ich kann mit nichts helfen. Auf Wiedersehen.
Nicht hier – das ist der Ausgang nur für Patienten. Hierher, bitte.
(Er begleitet den Mann zur anderen Tür hinaus und bleibt dann alleine neben dem Tisch mit
dem Beruhigungsmittel. In seinem Gesicht ist völliges Unverständnis zu lesen.)
Zweiter Akt
(Der Doktor ist in seinem Kabinett. Marina tritt ein, gekleidet in ein sehr schickes
Kleid.)
MARINA:
(Fröhlich.) Guten Tag, Doktor! Hier bin ich wieder!
DOKTOR:
(Äußerst kühl.) Wer sind Sie, eigentlich?
MARINA:
(Verwundert, aber nicht ohne Charme.) Mein Gott, Was geht in Ihrem Kopf
vor? Mich innerhalb einer halben Stunde zu vergessen? Ausreichend, mein Kleid
zu wechseln, und Sie erkennen mich schon nicht mehr!
DOKTOR:
Ich erkenne Sie hervorragend. Und genau deshalb würde ich gerne wisse, wer Sie
sind. Weisen Sie ein Dokument vor.
MARINA:
Weshalb?
DOKTOR:
Deshalb, weil Sie nicht einmal Zeit dazu fanden, sich vorzustellen.
MARINA:
Ich heiße Marina, das wissen Sie doch.
DOKTOR:
Woher weiß ich, dass Sie tatsächlich Marina heißen? Übrigens, falls tatsächlich
Marina, dann bedeutet das noch gar
nichts. Einen Ausweis, bitte.
MARINA:
Ich trage keine Dokumente bei mir.
DOKTOR:
Und ich wiederhole noch einmal – Ausweis.
(Marina öffnet ihre Handtasche
und kramt darin, aber anstelle eines Ausweises bringt sie ein Taschentuch
hervor, beginnt zu schluchzen und sich die Tränen abzuwischen.).
DOKTOR:
(Besorgt.) Was ist mit Ihnen?
(Marina antwortet nicht. Der
Doktor gießt ihr aus der Karaffe Wasser ein und reicht es ihr.)
MARINA:
(Weist das Wasser zurück.) Lassen Sie mich!
DOKTOR:
Was ist los? Sind Sie mit mir beleidigt?
MARINA:
Was denken Sie denn?
DOKTOR: Weshalb?
MARINA: (Unter Tränen.) Und Sie fragen noch,
weshalb? Sie haben auf mich einen sehr guten Eindruck gemacht, mehr noch – Sie
gefielen mir. Mir schien, dass auch Sie mir zugetan waren… ich kam zu Ihnen mit
offenem Herzen, und was erlebe ich in Wirklichkeit? Kälte, Misstrauen, erniedrigende
Fragen… (Schluchzt.)
DOKTOR:
Beruhigen Sie sich…
MARINA:
Lassen Sie mich gehen.
DOKTOR:
Sie kennen nicht alle Umstände. Sache ist die, es kam ohne Sie… Unwichtig.
MARINA: Wer kam? Eine andere Frau? (Der Doktor schweigt.) Und nannte sich auch seine
Frau?
DOKTOR: Ja.
MARINA: Na, und? Haben Sie denn das
geglaubt? Kommen denn zu Ihnen wenige Verrückte?
DOKTOR:
Das Problem ist doch das, dass auch Michael sie seine Frau genannt hat.
MARINA:
Und Sie wissen nicht, dass er kein Gedächtnis hat? Und kam sie tatsächlich
hierher?
DOKTOR:
Sie kam, natürlich.
MARINA:
(Geht zur Tür und ruft den Mann.) Lieber, komm hierher. (Tritt ein.) Sag,
kam während meiner Abwesenheit
irgendeine Frau hierher?
MICHAEL:
(Arglos.) Ich hab´ niemanden gesehen.
MARINA:
Und hat sie sich deine Frau genannt?
MICHAEL:
Wie kann sie sich so nennen, wenn sie doch gar nicht hier war?
MARINA:
Und du – hast du sie nicht deine Frau genannt?
MICHAEL:
Du bist die Einzige für mich auf der Welt und du weißt das sehr gut. (Küsst sie.)
MARINA: Danke, Lieber. (An den Doktor gewandt.) Nun, glauben Sie jetzt?
DOKTOR:
Ich weiß nicht, was ich denken soll… Übrigens, es gibt noch einen Umstand…
Außer der Frau kam auch ein Mann hierher…
MARINA:
Na, und?
DOKTOR:
Er behauptete, dass er… Dass er Ihr Mann ist.
MARINA:
Mein Mann? (Lacht schallend.) Mein Gott, wie schwer ist es, Psychiater
zu sein! Wer kommt nicht alles zu Ihnen! (Lacht immer noch.)
DOKTOR:
Was ist hier so lächerlich?
MARINA:
Und dieser Mann hat nicht behauptet, dass er Napoleon ist?
DOKTOR:
Nein. Er behauptete nur, dass er Ihr Man ist. Warum haben Sie das vor mir
verborgen?
MARINA:
Aber hier ist doch mein Mann, vor Ihnen! Brauchen Sie noch Beweise? Bitte. (An den Mann gerichtet.) Mein Lieber, zieh das Hemd
aus und zeig dem Doktor dein Muttermal unter dem linken Schulterblatt. (Zieht
folgsam sein Hemd aus. Der Doktor besieht sich das Muttermal. Marina wendet
sich an den Doktor.) Haben Sie sich überzeugt?
DOKTOR:
Ja.
MICHAEL:
Doktor, ist dieses Muttermal nicht gefährlich?
DOKTOR: Nein.
MICHAEL: (Hartnäckig.) Trotzdem, ich möchte Sie
bitten, es zu entfernen. Ich fürchte, dass es sich in ein Krebsgeschwür
verwandelt.
DOKTOR:
Ich versichere Ihnen, es ist harmlos. Und, außerdem bin ich kein Chirurg.
MICHAEL:
Wir könnten das gleich jetzt machen. (Zieht wieder das Hemd aus.)
DOKTOR:
(Leidend.) Ich hab´ doch gesagt, ich bin kein Chirurg.
MICHAEL:
Und was sind Sie, Urologe? Das trifft sich sehr gut. Gerade auf diesem Gebiet
habe ich große Probleme. Wenn ich versuche zu…
MARINA:
(Unterbricht ihn.) Stör den Doktor nicht, Lieber. Zieh das Hemd an. (Er
zieht sich folgsam an.) Und jetzt zieh die Hosen aus und zeig dem Doktor… (Er
macht sich am Gürtel zu schaffen.)
DOKTOR:
Das muss nicht sein, ich glaube Ihnen.
MARINA:
Ich wollte Ihnen nur noch ein Muttermal zeigen, auf dem…
DOKTOR:
Ich verstehe. Das muss nicht sein.
MICHAEL:
Also, Hosen ausziehen, oder nicht?
DOKTOR:
Das braucht es nicht.
MICHAEL:
Ich zieh´ sie trotzdem aus. Wenn Sie schon Urologe sind, dann will ich Ihnen
auch gleich zeigen…
MARINA:
(Unterbricht ihn.) Danke, Lieber, das muss nicht sein. Wart bitte im
Wartezimmer auf mich. Aber geh nicht weg. (Eindringlich.) Hast du verstanden? Geh
nirgendwo hin. Wir fahren bald zusammen nachhause. (Michael geht hinaus.)
DOKTOR:
Entschuldigen Sie, dass ich mir erlaubt habe, an Ihnen zu zweifeln. Ich
bekenne, dass mich jener Mann durcheinander gebracht hat.
MARINA:
Und Sie sind sicher, dass er überhaupt hierher kam?
DOKTOR:
Was heißt “sicher”? Natürlich kam er! (Erinnert sich an sein Leiden.) Obwohl…
Denken Sie, dass er nicht kam?
MARINA:
Das hat keine Bedeutung.
DOKTOR:
Nein, mir scheint, er kam. Nun, gut. Angenommen, dass er, Ihren Worten nach,
ein Verrückter ist. Aber jene Frau zeigte mir ihre Dokumente, und Sie,
entschuldigen Sie, kenne ich nicht einmal dem Namen nach.
MARINA:
Wie können Sie das nicht wissen? Nicht länger, als heute Morgen, haben Sie mir
selbst zweimal angerufen und mich Marina genannt.
DOKTOR:
(In die Enge getrieben.) Ach, ja, richtig… Das hab´ ich vergessen… Aber,
verstehen Sie, ich bin nicht sicher…
MARINA:
(Marina öffnet ihre Handtasche, steckt das Taschentuch hinein, nimmt die Puderdose
heraus und bringt sich in Ordnung. Als sie die Puderdose zurück
legt, ruft sie freudig aus.) Oh! Es scheint, ich hab` ein Dokument
dabei. Und sogar mit Foto. Das ist mein Führerschein. Hier, bitte, schauen Sie.
DOKTOR:
Das muss nicht sein, ich glaube Ihnen.
MARINA:
Jetzt glauben Sie, nach fünf Minuten hören Sie wieder auf, zu glauben. Wie alle
Männer. Schauen Sie trotzdem. (Der Doktor nimmt unwillig das Dokument in die
Hand.) Was steht da?
DOKTOR:
„Marina Glöckner“.
MARINA:
Ist der Stempel in Ordnung?
DOKTOR:
In Ordnung. (Er gibt ihr das Dokument zurück. Sie steckt es in die
Handtasche und zieht Fotos hervor.)
MARINA:
Mein Mann hat Ihnen erzählt, dass wir in derselben Schule gelernt haben?
DOKTOR:
Welcher Mann? Michael? Er hat.
MARINA:
Hier, schauen Sie, wie wir als Kinder waren. Lustig, nicht wahr?
DOKTOR:
Sie haben sich fast nicht verändert.
MARINA:
Danke. Und hier sind wir beide schon erwachsen.
DOKTOR:
Das war wahrscheinlich kurz vor der Hochzeit?
MARINA:
Ja.
DOKTOR:
Wie schön Sie sind!
MARINA:
(Verführerisch.) Wollen Sie sagen, dass ich jetzt nicht mehr so bin?
DOKTOR:
Jetzt sind Sie noch besser.
MARINA: Danke. (Steckt die Fotos weg.) Ich sehe, Sie sind ein
Frauenheld. Ich weiß nicht, ob eine Frau hierher kam, aber von was ich
überzeugt bin ist, dass Sie auch sie zum Abendessen eigeladen haben.
DOKTOR:
Ich schwöre Ihnen, ich habe niemanden eingeladen! Und überhaupt kam niemand
hierher! (Verwirrt.) Oder kam doch? Verdammtes Gedächtnis… Es scheint,
ich sollte die Praxis aufgeben. (Gießt sich die nächste Portion Tropfen
ein.)
MARINA: (Nimmt ihm das Fläschchen weg.) Hören
Sie auf, Tropfen zu nehmen. Sind Sie Arzt, oder kein Arzt?
DOKTOR: (Stöhnt.) Ich bin Arzt. (Verwirrt.) Oder kein Arzt? (Fasst sich.) Was rede ich da für Unsinn!
Natürlich Arzt.
MARINA:
Und wenn Sie Arzt sind, dann bringen Ihnen die Patienten auch Cognac. Bringen
sie, oder bringen sie nicht?
DOKTOR:
(Unsicher.) Natürlich bringen sie.
MARINA:
Also, dann trinken Sie einen Doppelten. Das hilft sofort.
DOKTOR: Das prüfen wir sofort. (Öffnet die Bar.) So viel Cognac. (Erfreut.) Das heißt, ich bin Arzt. (Ergreift eine Flasche.) Schließen Sie sich an?
MARINA:
Ich habe Ihnen noch nicht verziehen.
DOKTOR:
Ach, lassen Sie doch. Trinken wir. (Gießt mit zitternden Händen Cognac in
zwei Schwenker ein.)
MARINA:
(Beobachtet ihn mitleidig.) Mein Lieber, schauen Sie sich im Spiegel an:
Verwirrter Blick, zitternde Hände. Was geht mit Ihnen vor?
DOKTOR:
Ich gebe zu, dass ich heute nicht ganz in Form bin. Müdigkeit, Gedächtnisverlust, verwirrte
Gedanken, Schwindelgefühle… Ich fürchte, das alles nennt sich mit einem
Begriff - Alter.
MARINA:
Dummes Zeug. Sie brauchen bloß eine warme, fürsorgliche, weibliche Hand, das
ist alles. Haben Sie eine Frau?
DOKTOR:
Frau? Lassen Sie mich nachdenken… (Grübelt.) Ich bin jetzt in so einem
Zustand, dass ich mich sogar daran nicht mehr erinnere. (Erinnert sich.) Was
rede ich denn da? Natürlich erinnere ich mich. Ich bin Witwer, schon viele
Jahre. Die Kinder sind erwachsen, leben einzeln, ich habe sie schon lange
vergessen. Übrigens, um die Wahrheit zu sagen, haben sie mich vergessen. Ich
bin völlig einsam… Ich verstehe nicht, was mit meinem Gedächtnis passiert ist?
Das kam so unerwartet…
MARINA:
Leiden Sie bloß nicht darunter.
DOKTOR:
Ich leide auch nicht. Wenn Sie in der Nähe sind. Wissen Sie, ich beneide sogar
Ihren Mann. Ich würde auch mit Freuden alles zum Teufel vergessen: Einsamkeit,
ermüdende Arbeit, Steuerinspektoren, neidische Kollegen, streitende Nachbarn, beharrliche
Patienten mit ihren dauernden Beschwerden und Krankheiten, und gleichzeitig
meine eigenen. An nichts denken, sich an nichts erinnern, neben einer schönen
Frau sitzen mit einem Cognac, vergessen, dass du alt für sie bist, oder bald
alt wirst, alles vergessen und nur die momentane Minute genießen…
MARINA:
Also dann lassen Sie uns doch für den Augenblick leben. Buße, Bedauern,
Nachdenken, die kommen danach, aber jetzt lassen Sie uns des Lebens freuen. (Hebt ihr Glas.) Auf unsere Gesundheit und unsere Erfolge! Auf das Glück!
DOKTOR: Danke. Mir ist so leicht mit
Ihnen. Von Ihnen geht irgendein Licht aus. Sie sind wahrscheinlich sehr
glücklich.
MARINA:
Denken Sie nicht, dass ich es leicht habe. Ich weiß, was Einsamkeit ist.
DOKTOR:
Sie haben Michael.
MARINA:
Apropos, ich muss kontrollieren, ob er nicht gegangen ist. (Geht und kehrt
schnell wieder zurück. Der Doktor besieht sich derweilen kritisch im Spiegel.)
DOKTOR:
Alles in Ordnung?
MARINA:
Ja. Es erscheint Ihnen wahrscheinlich seltsam, dass ich mich um ihn sorge, aber
ich liebe ihn sehr. So sehr, dass ich bereit bin, ihm zuliebe große Dummheiten
zu machen. (Kurzes Schweigen.) Aber das befreit mich nicht von
Einsamkeit.
DOKTOR:
Ich verstehe. (Nimmt sie an der Hand.)
MARINA:
(Ohne die Hand zurückzuziehen.) Es ist Zeit für mich, zu gehen.
DOKTOR:
Beeilen Sie sich nicht.
MARINA:
Ich muss Michael
heim bringen. (Will gehen.)
DOKTOR: (Hält sie fest.) Dann treffen wir uns heute?
MARINA:
Wenn Sie es sich nicht anders überlegen oder vergessen.
DOKTOR:
(Ereifert sich.) Ich – anders überlegen? Vergessen? Ja, ich… (Erinnert sich plötzlich
wieder an die über ihn gekommene, seltsame Vergesslichkeit und unterbricht sich
selbst.) Ich schreibe es auf. Für alle Fälle. (Macht einen Vermerk in seinem
Tagebuch.)
MARINA:
(Erhebt sich.) Und vergessen Sie nicht, die Krankengschichte und die
Bescheinigung vorzubereiten.
DOKTOR:
Für Sie mache ich alles, was Sie wünschen. Soll ich Sie begleiten?
MARINA: Nein, danke. Ich bitte Sie, sorgen Sie
dafür, dass mein Mann nicht weg geht, solange ich ein Taxi suche.
(Marina geht hinaus. Der
Doktor, nachdem er lebhafter geworden ist und vor sich hin pfeift, setzt sich
an den PC. Der Mann tritt ein. Er verhält sich völlig anders, als beim ersten
Besuch. Seine Manieren sind selbstsicher und entschlossen.)
DOKTOR:
Sie wieder?
MANN:
Wie Sie sehen.
DOKTOR:
Was wollen Sie denn eigentlich?
MANN:
Ich führe eine kleine private Nachforschung durch.
DOKTOR:
Ich habe gleich begriffen, dass Sie ein Schnüffler sind.
MANN:
Ich bin kein Schnüffler. Ich bin Finanzist.
DOKTOR:
Falls Sie Steuerinspektor sind, zeigen Sie einen Ausweis vor.
MANN:
(Hart.) Wo ist Marina?
DOKTOR:
Haben Sie etwa sie verfolgt?
MANN:
Kann sein.
DOKTOR:
Leider kann ich mit nichts helfen. Sie ist, wie Sie sehen, nicht hier.
MANN:
Ich habe doch gesehen, wie sie vor zwanzig Minuten hier herein kam.
DOKTOR:
Aber Sie haben nicht gesehen, wie sie vor einer Minute hinaus
ging.
MANN:
Kommt sie zurück?
DOKTOR:
Ich weiß nicht. Was wollen Sie von ihr?
MANN:
Ich habe nicht das Recht, Ihnen das zu sagen.
DOKTOR:
Kein Recht, dann sagen Sie auch nichts. Alles Gute.
MANN:
Ich bin dringend verpflichtet, sie zu finden, verstehen Sie? Eine Frage auf
Leben und Tod.
DOKTOR:
Hier ist keine Detektei. Suchen Sie sie also auf der Straße. Und, bitte, halten
Sie mich nicht auf. Übrigens, Besuche bei mir sind sehr kostspielig.
MANN:
Ich bin bereit zu zahlen, wenn Sie helfen, sie zu finden.
DOKTOR:
Ich nehme kein Bestechungsgeld.
MANN:
Wirklich?
DOKTOR:
Ich nehme Honorare.
MANN:
Also bin ich bereit, Ihnen ein Honorar zu bezahlen.
DOKTOR:
Ich nehme es nur für Behandlung und nicht für die Bereitstellung von
Information. Ich wünsche Ihnen Erfolg, und stören Sie mich nicht bei der
Arbeit. Zu mir kommt man nur nach vorheriger Anmeldung. (Schiebt den Mann
höflich zum zweiten Ausgang.) Ich bitte Sie. Nein, durch diese Tür. Durch
diese kommen nur meine Kranken herein.
MANN:
Nun denn, dann schicke ich Ihnen tatsächlich einen Steuerinspektor. (Schaut
den Doktor aufmerksam an.) Nun, erschreckt?
DOKTOR:
Nicht sehr.
MANN:
Umsonst. Ich bin sicher, dass Sie es nicht mögen, Steuern zu zahlen.
DOKTOR:
Ich, nicht mögen?
MANN:
Sie.
DOKTOR:
Ich?!
MANN: Sie.
DOKTOR:
Na und? Wer mag das?
MANN:
Vielleicht veranstalten wir eine kleine Prüfung?
DOKTOR:
Bitte. Meine Einkünfte weiß ich gut zu verbergen.
MANN:
Und ich weiß sie gut zu finden.
DOKTOR:
Hören Sie auf, mir zu drohen. Ich hab doch gesagt, dass ich keine Prüfung
fürchte.
MANN:
Weil Sie kein Bestechungsgeld nehmen?
DOKTOR: Nein. Weil ich es gebe. Alles Gute.
MANN: (Ändert den Ton.) Doktor, Sie wissen doch,
dass ich jetzt eine äußerst private Angelegenheit habe, die weder Verbindung
zur Medizin, noch zu Steuern hat. Ich brauche Marina.
DOKTOR:
Auf Wiedersehen. Die Ausgangstür ist hier.
MANN:
(Bleibt in der Türe stehen.) Doktor, warum kommt sie eigentlich zu
Ihnen? Haben Sie etwas mit ihr?
DOKTOR:
Sie betrifft das in keiner Weise.
MANN:
Ist sie denn krank?
DOKTOR:
Jegliche Einzelheiten bezüglich meiner Besucher, gesund oder krank, verlassen
nicht die Grenzen dieses Kabinetts.
MANN: (Trocken, fast drohend.) Hervorragend. Obwohl ich spüre, dass es
zwischen ihnen irgendeine Verbindung gibt, und ich halte es für meine Pflicht,
Sie zu warnen: Seien Sie vorsichtig!
DOKTOR:
Ich welchem Sinn?
MANN:
In allen Sinnen. Sie ist verwirrt und weiß selbst nicht, was sie macht. (Wendet
sich zum Gehen.) Wenn Sie sie trotzdem sehen, sagen Sie, dass ich versuche,
sie zuhause anzutreffen und, falls ich sie nicht finde, wieder hierher komme.
DOKTOR:
Ich glaube nicht, dass ich Sie hereinlasse.
MANN:
Und ich glaube, dass ich Sie nicht fragen werde.
(Der Mann geht. Der Doktor
setzt sich wieder an den PC. Marina tritt ein.)
MARINA:
Gehe ich Ihnen noch nicht auf die Nerven?
DOKTOR:
So schnell haben Sie ein Taxi gefunden?
MARINA:
Ich hab´ keines gesucht… Ich habe beschlossen, meinen Mann in meinem Auto
mitzunehmen. Es steht hier ganz in der Nähe, auf einem Parkplatz. Bewachen Sie
ihn noch zwei Minuten, gut? (Schaut den Doktor aufmerksam an.) Was ist
schon wieder passiert?
DOKTOR:
Gerade eben hat wieder dieser… Nun… Ihr Mann nach Ihnen gefragt.
MARINA:
Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich keinen Mann habe! Außer Michael versteht
sich.
DOKTOR:
Ich weiß nicht, ich weiß nicht… Er hat mich gewarnt, dass man mit Ihnen
vorsichtig sein muss. Er hat sogar versucht, mir zu drohen.
MARINA:
Hat er nicht erklärt, um was es geht?
DOKTOR:
Nein, aber er hat gesagt, dass es sehr wichtig ist. Eine Frage auf Leben und
Tod.
MARINA:
(Sehr verwirrt.) Es scheint, ich kann mir
vorstellen, von wem die Rede ist.
DOKTOR:
Ist er tatsächlich Ihr Mann?
MARINA:
Nicht ganz…
DOKTOR:
Nicht ganz?
MARINA:
Überhaupt nicht. Das ist mein Kollege… Genauer, sogar mein Vorgesetzter.
DOKTOR:
Sagen Sie die Wahrheit?
MARINA:
Ich schwöre.
DOKTOR:
Und was will er so Wichtiges von Ihnen?
MARINA:
Nichtigkeiten. Er ist einfach, wie soll ich Ihnen das sagen… leicht
ungleichgültig gegenüber mir und ziemlich eifersüchtig. Er schüchtert alle
meine Bekannten ein. Er will ewig mit mir etwas klären, etwas bereden… Und
dabei immer dringend.
DOKTOR:
Ich verstehe.
MARINA:
Also, ich gehe, das Auto holen.
DOKTOR:
(Hält sie fest.) Ich will Sie nicht weglassen.
MARINA:
(Befreit sich sanft.) Ich komm´ schnell zurück. Wirklich in einer
Minute.
DOKTOR:
Und fahren wieder weg.
MARINA:
(Küsst ihn auf die Wange.) Um uns abends zu treffen.
(Marina geht. Der Doktor
lächelt glücklich. Er geht zum Spiegel, besieht sich kritisch, bringt die
Krawatte und die Frisur in Ordnung, nimmt aus dem Schrank ein anderes, helleres
Jackett und zieht es an. Johanna tritt ein, noch entschiedener als vorher
eingestellt. Der Doktor, darauf eingestellt, den Gast mit offenen Armen zu
empfangen, ist unangenehm überrascht.)
DOKTOR:
Sie sind das?
JOHANNA:
Wen haben Sie denn erwartet?
DOKTOR:
Eine andere Frau. Die Frau Ihres Mannes. Das heißt… Ich wollte sagen – Michaels
Frau. Das heißt…
JOHANNA:
Michaels Frau – das bin ich.
DOKTOR:
Jetzt habe ich große Zweifel daran.
JOHANNA:
Zum ersten Mal treffe ich einen Arzt, der sich anstatt mit Behandlung mit Ermittlung
befasst. Ist die Krankengeschichte fertig?
DOKTOR: Nein. Und wenn sie es wäre, würde
ich sie Ihnen nicht geben. Wer sind Sie eigentlich?
JOHANNA:
Ich habe geahnt, dass Sie beliebige Ausflüchte suchen werden, nur um auszuweichen,
und habe für diesen Fall das ganze Spektrum an Dokumenten der Reihe nach
vorbereitet. (Zeigt einen ordentlich geführten Ordner.) Hier, mein Pass. Hier meine Heiratsurkunde mit Michael. Hier die Geburtsurkunden
unserer Kinder, in denen übrigens die Namen der Eltern aufgeführt sind, das
heißt meiner und der meines Mannes. Hier unser Hochzeitsbild, das hier auch,
aber mit Gästen, und hier unsere Fotos mit den Kindern. Hier die Stromrechnung und
andere auf unseren gemeinsamen Namen. Sind Sie jetzt zufrieden?
DOKTOR:
(Völlig verblüfft sieht er die Papiere durch und gibt sie Johanna zurück.) Ich…
Ich… (Will zu den Tropfen greifen, stellt aber das Fläschchen zur Seite und
gießt sich eine großzügige Portion Cognac ein.) Das heißt, Sie sind
trotzdem seine Frau?
JOHANNA:
Wer denn sonst, Ihrer Meinung nach etwa die Großmutter?
DOKTOR:
Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich denken soll. (Greift wieder zum
Cognac.) JOHANNA: (Im Befehlston.)Stellen Sie das Glas zurück! (Schiebt
die Flasche energisch zur Seite.) Ich beginne, mir ernsthaft Sorgen um die
Gesundheit meines Mannes zu machen.
DOKTOR:
Warum?
JOHANNA:
Weil sein Arzt Alkoholiker ist.
DOKTOR:
Ich trinke überhaupt nicht.
JOHANNA:
Das sehe ich.
DOKTOR:
Sind Sie wirklich seine Frau?
JOHANNA:
Warum verwundert Sie das so?
DOKTOR:
Ich würde mich nicht wundern, wenn… Wenn nicht die andere Frau gewesen wäre…
JOHANNA:
(Hart.) Was die andere Frau betrifft, ist das ausschließlich das
Ergebnis des Alkohols oder die Frucht Ihrer gestörten Wahrnehmung. Als Jurist
weiß ich, dass Psychiater infolge dauernder Kontakte mit Verrückten nur schwer
ihr seelisches Gleichgewicht bewahren. Vergessen Sie also diesen Wahn. Es war
keine Frau da.
DOKTOR:
Es war!
JOHANNA:
(Unerbittlich.) Es war keine und
kann keine gewesen sein. Sie kontrollieren sich nicht. Sie haben Probleme mit dem Gedächtnis. Sie haben sogar
vergessen, dass Sie meinen Mann schon zwei Jahre behandeln. Sie haben seine
Krankengeschichte verloren. Vielleicht haben Sie sie aus Unvorsichtigkeit oder
Vorsatz vom PC gelöscht. Uns bleibt nichts anderes übrig, als sie wieder
herzustellen. Dem Gesetz nach waren Sie verpflichtet, die Kranken-geschichte zu
führen. Es wird Ihnen sehr schwerfallen, dem Gericht zu erklären, warum Sie das
nicht getan haben.
DOKTOR:
(Nervös.) Welches Gericht?
JOHANNA:
Das Gericht, an das ich mich wende. Ich beabsichtige, meinen Mann in einer
Pflegeeinrichtung unterzubringen, und Sie wissen ausgezeichnet, dass dazu eine
lange und überzeugende Krankengschichte nötig ist.
DOKTOR:
Sie wollen den Mann in ein Irrenhaus stecken?
JOHANNA:
Achten Sie auf Ihre Ausdrucksweise. Wenn ich jemanden in ein Irrenhaus stecken
will, dann sind Sie das. Und, glauben Sie mir, das gelingt mir. Schauen Sie
sich im Spiegel an, betrachten Sie Ihren wahnsinnigen Anblick, und Sie stimmen
mir zu.
DOKTOR:
Geben Sie zu, dass Sie es satt haben, sich um den Mann zu kümmern, und Sie beschlossen
haben, ihn loszuwerden.
JOHANNA:
Erstens ist das meine Privatangelegenheit. Und zweitens, wenn es so wäre, was
dann? Er hat vielleicht das Recht, seine
wichtigste Verpflichtung zu vergessen, aber ich bin nicht verpflichtet, mein
wichtigstes Recht zu vergessen. (Verächtlich.) Verstehen Sie das
wenigstens, Doktor?
DOKTOR:
„Verpflichtung“, „Recht“… Gleich zu sehen, dass Sie Jurist sind.
JOHANNA:
Und das, dass ich Frau bin, ist nicht gleich zu sehen?
DOKTOR:
Nicht gleich. Sie gleichen mehr der „Freiheitsstatue“.
JOHANNA:
Von einem Arzt habe ich mehr Verständnis erwartet.
DOKTOR:
Was wollen Sie von mir?
JOHANNA:
Bescheinigung und Krankengeschichte.
DOKTOR:
Nun, gut, kommen Sie morgen, ich bereite alles vor.
JOHANNA:
Bis morgen denken Sie wieder irgendeine Ausrede aus. Ich brauche es heute.
Jetzt.
DOKTOR:
Jetzt beginnt bei mir die Sprechstunde im Krankenhaus. Ich muss gehen.
JOHANNA:
Für lange?
DOKTOR:
Etwa zwanzig Minuten.
JOHANNA:
Ich werde warten.
DOKTOR:
Heute schaffe ich es sowieso nicht. Eine Krankengeschichte wird nicht so
schnell gefertigt, wie Sie glauben. Ich bitte Sie, kommen Sie morgen.
JOHANNA:
Nein, ich gehe hier nicht weg, bevor ich die Bescheinigung nicht bekomme. (Setzt
sich demonstrativ, nimmt ein medizinisches Journal und vertieft sich in dessen
Lektüre, damit zeigend, dass sie vorhat, lange zu bleiben, und es nicht
gelingen wird, sie loszuwerden.)
DOKTOR:
(Hoffnungslos.) Aber ich muss wirklich in die Klinik hinunter.
JOHANNA:
Gehen Sie, ich halte Sie nicht auf.
DOKTOR:
Und Sie?
JOHANNA:
Ich gehe und gebe Michael ein Butterbrot, dann bringe ich ihn hierher, und wir
werden zusammen hier sitzen, bis wir unsere Krankengeschichte bekommen.
DOKTOR:
Nun, denn… Wie es Ihnen beliebt.
(Der Doktor gießt sich Cognac
ein, dann, überlegt er es sich und nimmt das Fläschchen mit den Tropfen, dann
wendet er sich wieder dem Cognac zu, und findet einen Kompromiss: Er gießt
einige Tropfen in den Cognac, trinkt aus und geht, sich abwechselnd an Kopf und
Herz fassend. Johanna begleitet ihn mit zufriedenem Blick, dann geht auch sie
hinaus. Nach einiger Zeit kommen Marina und fast gleichzeitig der Mann herein.)
MANN:
Endlich habe ich Sie gefunden.
MARINA:
Aufgespürt.
MANN:
Ja, aufgespürt. Warum haben Sie vor mir verheimlicht, dass Sie verheiratet
sind?
MARINA:
Ich habe nichts verheimlicht.
MANN:
Aber auch nie etwas davon erwähnt.
MARINA:
Meinen Sie, eine Frau sollte ununterbrochen in Zeitungen, im Radio und
Fernsehen verkünden, dass sie verheiratet ist? Oder umgekehrt, dass sie nicht
verheiratet ist?
MANN:
Nicht verkünden, aber auch nicht verheimlichen.
MARINA: Ich verheimliche nichts.
MANN: Wirklich? (Und da Marina nicht antwortet, fährt er fort.) Sie sind eine gefährliche
Frau.
MARINA:
Danke für das Kompliment.
MANN:
Warum sagen Sie mir nicht die ganze Wahrheit?
MARINA:
Sind Sie hierhergekommen, um private Verhältnisse zu klären?
MANN:
Nein. Unser Thema wird viel ernster…
(Johanna und Michael treten
ein.)
MARINA:
Nun, weiter, warum hören Sie denn auf?
MANN:
Das ist kein Gespräch für Außenstehende.
MARINA:
Gut, setzen wir es in ein paar Minuten fort.
MANN:
Ein paar Minuten – einverstanden, aber nicht mehr. (Geht hinaus.)
JOHANNA: Wer war das?
MARINA: Unwichtig. Wo ist der Doktor?
JOHANNA:
Er ist in die Klinik gegangen.
MARINA:
Und, wie ist er?
JOHANNA:
(Zufrieden.) Genau so, wie er sein soll.
MARINA: Ganz?
JOHANNA:
Es scheint so.
MARINA:
Ist er in die Klinik gegangen, um zu behandeln, oder sich behandeln zu lassen?
JOHANNA:
Um zu behandeln.
MARINA:
Ich an seiner Stelle, würde mich behandeln lassen.
JOHANNA:
Ich sehe, er tut dir Leid.
MARINA: Und dir nicht?
JOHANNA:
Mir tun wir alle Leid.
MARINA:
Er ist ein sehr guter Mensch.
JOHANNA:
Wir sind auch keine schlechten Leute.
MARINA:
Bist du sicher?
JOHANNA:
Du brauchst mich nicht mit Fragen zu löchern. Ich schlaf´ auch so nächtelang
nicht.
MARINA:
(Anteilnehmend.) Du siehst nicht besonders aus.
JOHANNA:
Du auch.
MARINA:
Glaubst du, mir fällt es leicht?
JOHANNA:
Und du glaubst, mir ist lustig dabei zumute?
MICHAEL:
Um die Wahrheit zu sagen, auch für mich ist es kein Zuckerlecken.
JOHANNA:
(Beißend.) Für ihn ist es „kein
Zuckerlecken“! Und wegen wem, glaubst du, befinden wir beide uns hier?
MICHAEL:
(Schuldbewusst.) Wegen mir.
JOHANNA:
Gut, dass wenigstens du das begreifst. (Pause.)
MICHAEL:
Eigentlich werde ich hier nicht mehr gebraucht. Kann ich gehen?
MARINA: Keinesfalls! Dich darf man nirgendwo
allein hinlassen.
JOHANNA:
Du weißt, dass wir dir das verbieten.
MICHAEL:
Ich bin kein Kind.
MARINA:
Hör auf! Wir haben auch so die ganze Zeit Angst, dass du wieder irgendetwas
anstellst.
MICHAEL:
Ich habe mich doch zu eurem Wohl bemüht.
JOHANNA:
Danke, du hast uns schon viel Wohl bereitet.
MICHAEL:
Ich will von hier weg.
JOHANNA:
Wir wollen alle weggehen.
MICHAEL:
Ich bin müde.
MARINA:
Wir sind alle müde.
MICHAEL:
Das ist alles ermüdend und unangenehm. Ich geh´.
JOHANNA:
(Hält ihn fest.) Sitz!
MARINA:
Hör auf, nervös zu sein, Lieber. Soll ich dir einen Kaffee machen?
JOHANNA:
Lass das, du hast ihn auch so verwöhnt.
MARINA:
Was soll ich tun? Ich liebe ihn.
JOHANNA:
Ich liebe ihn auch. Aber man darf mit ihm doch nicht die ganze Zeit zu nachsichtig sein. Und
woher nimmst du hier Kaffee?
MARINA:
Aus der Thermoskanne des Doktors.
MICHAEL:
Lasst uns lieber Cognac trinken. Er hat viel davon. (Öffnet die Bar.)
MARINA:
Nein, Lieber, das dürfen wir nicht. Wir müssen in Form sein.
MICHAEL:
Ihr liebt mich so, und ich verursache euch nur Unannehmlichkeiten. Glaubt ihr,
dass mich das Gewissen nicht quält?
JOHANNA:
Anstelle von Gesprächen über das Gewissen, solltest du dich lieber bemühen,
gesund zu werden.
MICHAEL:
Ich bemühe mich. Aber diese Anwandlung ist stärker, als ich.
JOHANNA:
Nicht sie ist stärker, sondern du bist schwächer.
MARINA:
Du solltest ihm nichts vorwerfen. Das ist nicht der Zeitpunkt dazu.
JOHANNA:
Du beschützt ihn ewig.
MARINA:
Und du willst, dass ich ihn angreife? (Pause.)
JOHANNA:
Es ist Zeit, auseinanderzugehen.
MARINA:
(An Johanna.) Gehen wir, ich will dir etwas sagen.
MICHAEL:
Ich geh´ mit euch.
JOHANNA:
Nein, bleib hier! So werden wir ruhiger sein.
(Marina und Johanna
gehen. Bleibt alleine im Sessel des
Doktors. Der Doktor tritt ein.)
MICHAEL:
Zu wem möchten Sie?
DOKTOR:
Ich? Zu niemandem.
MICHAEL: Der Doktor ist nicht da. Warten Sie im Wartezimmer.
DOKTOR: Der Doktor bin ich!
MICHAEL: Seit wann?
DOKTOR: Wie, „seit wann“?
MICHAEL: Seit wann sind Sie
Doktor?
DOKTOR: Ich bin es schon
immer. Und werde es sein, bis ich verrückt werde. Was dank Ihnen sehr bald
passieren wird.
MICHAEL: Nun, wenn Sie
Doktor sind, dann gestatten Sie mir, eine Frage zu stellen. Aber ärgern Sie sich
bloß nicht… Erinnern Sie mich, wie ich heiße.
DOKTOR: Haben Sie das denn
wieder vergessen?
MICHAEL: (In die Enge getrieben.) Ja, irgendwie… Ärgern Sie sich bloß nicht.
DOKTOR: Ich ärgere mich
auch nicht. Ich bin außer mir. Man kann das Gedächtnis verlieren, aber doch
nicht bis zu so einem Grad!
MICHAEL: (Schuldbewusst.)
Zum letzten Mal, Ehrenwort. Ich werd´s nicht mehr vergessen.
DOKTOR: Nun, gut. Sie
heißen… (Hält inne.) Sie heißen… (Ist verwirrt.)
Und wozu wollen Sie das alles wissen?
MICHAEL: Nun, wie denn…
Vielleicht fragen Sie plötzlich danach?
DOKTOR: Wozu sollte ich
fragen? Ich weiß es auch so.
MICHAEL: Dann also, wie
denn?
DOKTOR: Sie heißen… Sie
heißen… Warten sie… (Blättert in seinen Aufschrieben.) Sie heißen… Aha. (Feierlich.) Marina
Glöckner.
MICHAEL: Ich – Marina?
DOKTOR: Nein, warten Sie…
Das ist offenbar nicht Ihr Name. Aber Sie heißen… Ich hab´s doch
aufgeschrieben… (Stöbert wieder in Papieren.) Hier: . (Wiederholt mit
zusammengebissenen Zähnen.) Michael Glöckner, und seien Sie verdammt! Und
wie viele Frauen Sie haben, wissen Sie?
MICHAEL: (Denkt
angespannt nach.) Ich weiß nicht.
DOKTOR: Und ich weiß es
auch nicht. Gehen Sie ins Wartezimmer und erinnern Sie sich. Und stören Sie
mich nicht beim Arbeiten. Ich muss… schreiben… (Hält inne.) Verdammt
nochmal, was muss ich schreiben?
MICHAEL: Meine
Krankengeschichte.
DOKTOR: Richtig. Woher
wissen Sie?
MICHAEL: Ich weiß nicht.
DOKTOR: Nun gut, gehen Sie
mit Gott ins Wartezimmer und sitzen Sie dort ruhig.
MICHAEL: (Geht zum
Ausgang, bleibt aber stehen. Scharf.) Doktor…
DOKTOR: (Fasst sich an
den Kopf.) Was denn noch?
MICHAEL: Wissen Sie,
welches mein Hauptproblem ist?
DOKTOR: Fehlendes
Gedächtnis.
MICHAEL: Nein. Fehlendes
Geld.
DOKTOR: Das ist für alle
das Hauptproblem.
MICHAEL: Aber für mich
besonders. (Unerwartet.) Leihen Sie mir etwas.
DOKTOR: Ich würde Ihnen
leihen, aber Sie vergessen, es zurückzugeben.
MICHAEL: Ich vergesse es
nicht. Ich unterschreibe eine Quittung.
DOKTOR: Und verschwinden.
MICHAEL: Wohin kann ich
denn? Mein Pass ist doch bei Ihnen. Im äußersten Fall gibt Ihnen meine Frau das
Geld zurück.
DOKTOR: Welche von beiden?
MICHAEL: (Vertraulich.) Versetzen
Sie sich in meine Situation.
DOKTOR: Das würde ich mit
Vergnügen machen, aber ich weiß nicht, worin sie besteht.
MICHAEL: Kommt es denn
nicht vor, dass ein Mann zwei Frauen hat?
DOKTOR: (Mit großem
Interesse.) Und Sie haben zwei?
MICHAEL: Eine.
DOKTOR: Welche denn?
MICHAEL: (Zweifelnd.) Ich
weiß nicht.
DOKTOR: Ich verstehe
nichts.
MICHAEL: Ich auch. Doktor,
ich brauche dringend Geld. Eine Frage auf Leben und Tod. Leihen Sie mir
welches. Ich gebe es Ihnen heute wieder zurück.
DOKTOR: Wie viel brauchen
Sie?
MICHAEL: Wenigstens
eintausend Euro.
DOKTOR: „Wenigstens“?
MICHAEL: Wenn Sie mit
eintausend Probleme haben, geben Sie mir zwei.
DOKTOR: Um Sie loszuwerden
würde ich sogar drei geben.
MICHAEL: (Erfreut.) Ich
nehme auch vier.
DOKTOR: Vier gebe ich
nicht. Drei auch. Aber tausend gebe ich. Unter der Bedingung, dass ich Sie hier
nie mehr sehe.
MICHAEL: Abgemacht.
DOKTOR: (Nimmt Geldscheine aus dem Geldbeutel.) Nehmen Sie! Und - kehrt um,
vorwärts Marsch!
MICHAEL: Zu Befehl!
(Der strahlende Michael eilt davon. Der Doktor kehrt
an den PC zurück. Aber die Arbeit klappt nicht. Marina tritt ein.)
MARINA: (Beunruhigt.) Wo
ist mein Mann?
DOKTOR: Er ist hier. Ich
habe gerade erst mit ihm gesprochen.
MARINA: Sie sehen ziemlich
betrübt aus. Ist etwas passiert?
DOKTOR: Ich muss zugeben,
ich bin in eine teuflisch unangenehme Situation gekommen. In eine richtige Falle.
MARINA: Erzählen Sie, um
was geht es? Vielleicht kann ich Ihnen helfen.
DOKTOR: Nein, das können
Sie nicht.
MARINA: (Nimmt ihn sanft
an der Hand.) Erzählen Sie trotzdem. Ihnen wird wenigstens leichter.
DOKTOR: (Wischt sich die
Stirn ab.) Verzeihen Sie, aber wer sind Sie – Marina oder Johanna?
MARINA: Ich bin Marina.
DOKTOR: Ja, richtig. Wissen
Sie, mit mir geht etwas unverständliches vor sich. Im
Kopf verwirrt sich alles, ich begreife nichts. Von mir wird eine
Krankengschichte gefordert, und ich, da können Sie mich umbringen, erinnere
mich nicht, dass ich sie geschrieben habe. Und wenn ich sie nicht geschrieben
habe oder aus Versehen gelöscht, dann kann ich große Schwierigkeiten bekommen.
MARINA: Dann schreiben Sie
doch eine neue, worin besteht das Problem? Ist es das denn wert, den Kopf
hängen zu lassen?
DOKTOR: Eine fiktive
Krankengschichte mit unechtem Datum zu verfassen, ist ungesetzlich. Damit
stolpere ich in noch größere Unannehmlichkeiten.
MARINA: Ach, wer erfährt denn davon?
DOKTOR: Wenn es eine Prüfung gibt, kann man das ganz leicht aufdecken.
Der PC fixiert doch automatisch das Erstellungsdatum einer Datei. Übrigens, Sie
werden wohl kaum etwas davon verstehen.
MARINA: Und darin besteht das ganze Problem?
DOKTOR: Im technischen Sinn, ja. Über Gewissensbisse und Berufsehre
red´ ich schon gar nicht. Die interessieren in unserer Zeit niemanden.
MARINA: Mir scheint, ich kann Ihnen helfen.
DOKTOR: Wie?
MARINA: Habe ich Ihnen denn nicht gesagt, dass ich von Beruf
Programmiererin bin?
DOKTOR: Sie?!
MARINA: Und Ihr technisches Problem ist aus Sicht eines Programmierers
nur ein Nichts. Setzen Sie sich neben mich. (Beide setzen sich an den PC.
Marinas Finger fliegen schnell über die Tastatur.) Hier, schauen Sie… Wir
öffnen eine Datei mit der Krankengeschichte Michaels… Der PC zeigt an, dass sie
heute geschaffen wurde. Richtig?
DOKTOR: Richtig.
MARINA: Jetzt eine kleine Korrektur… Schauen Sie jetzt – wann wurde die
Datei geschaffen?
DOKTOR: (Schaut auf den Bildschirm.) Vor zweieinhalb Jahren.
Einfach unglaublich! Wie haben Sie das geschafft?
MARINA: (Zitiert mit Ironie den Doktor.) Wissen und Arbeit.
DOKTOR: Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll!
MARINA: Danken brauchen Sie nicht. (Schwankend.) Und jetzt will
ich Ihnen etwas sehr wichtiges sagen… (Verstummt.)
DOKTOR: Nun, was schweigen Sie denn?
MARINA: Es ist schwer, mich zu überwinden. Aber ich werd´s doch sagen.
(Der Mann tritt ein. Marina verstummt. Sie ist sehr verwirrt.)
MANN: (An Marina.) Jetzt verstecken Sie sich nicht vor mir. (An
den Doktor. Sein Ton ist hart,) Lassen Sie uns bitte alleine.
(Der Doktor blickt fragend auf Marina. Sie nickt ihm zu.
Der Doktor geht hinaus. Pause.)
MARINA: Nun, reden Sie.
MANN: Sie wissen hervorragend, um was es geht.
MARINA: Nicht ganz.
MANN: Dann führe ich die Sache so klar und kurz aus, wie möglich, zudem
wenig Zeit übrig bleibt. Sie haben aus der Bank die Ihnen bekannte Summe
entwendet. Das Geld ist zwar nicht auf Ihr Konto überwiesen, aber Sie wissen
bestens, was darauf steht.
MARINA: Gefängnis.
MANN: Völlig richtig. Sie galten als gebildete Mitarbeiterin. Ehrlich
gesagt, ich bewundere auch jetzt noch Ihre Kunstfertigkeit, mit der Sie diese
Operation durchgeführt haben. Zwei Jahre hat die Bank nicht bemerkt, wie eine
einzige Zeile im Computerprogramm zu dem Geldverlust geführt hat.
MARINA: Man muss noch beweisen, dass ich diese Zeile einfügt habe.
MANN: Experten werden das beweisen.
MARINA: Unklar, wer erfahrener ist - ich oder Ihre Experten. Was wollen
Sie von mir?
MANN: Geben Sie das Geld zurück, und die Bank wird Sie nicht vor
Gericht bringen.
MARINA: Woher diese Milde? Daher, dass Sie mir gegenüber nicht ganz gleichgültig
sind?
MANN: Sie wissen, dass ich Ihnen gegenüber wirklich nicht ganz
gleichgültig bin, aber in diesem Fall sind rein kommerzielle Gründe wichtiger.
Die Bank braucht wirklich nicht, dass der Öffentlichkeit bekannt wird, dass
unsere Mitarbeiter das Geld der Anleger stehlen. Dann verlieren wir tausende
Kunden und hunderttausende Euro. Deshalb sind wir interessiert, diese Sache zu vertuschen.
MARINA: Wann muss man das Geld zurückgeben?
MANN: Heute. Andernfalls werden Sie morgen verhaftet.
MARINA: Heute kann ich nicht. Und morgen, übrigens, auch nicht. Und
übermorgen.
MANN: Warum?
MARINA: Was macht den Unterschied?
MANN: Gut. Ich hab´ gesagt, was ich sagen sollte. Denken Sie nach. Ich
wiederhole: Zeit haben Sie wenig. (Steht auf, geht zum Ausgang, bleibt
stehen. Sein Ton verändert sich.) Marina, Sie wissen doch, wie ich zu Ihnen
stehe.
MARINA: Ich weiß.
MANN: Weshalb haben Sie das gemacht?
MARINA: Weil… Weil ich es getan habe.
MANN: Und wo ist denn trotzdem das Geld?
MARINA: Ich habe es nicht für mich genommen.
MANN: Das habe ich vermutet. Dann soll eben jener Mensch sitzen!
Letztendlich hat nämlich er sich das Geld von dem Konto angeeignet, und Sie
sind formell fast nicht schuldig. Jene Zeile im Programm kann man als technischen
Fehler erklären. Was sagen Sie dazu?